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Das Ausland. 1,2.1828

griechischen Alterthums wahrnehmen. Das den alterthümlichen Dichtern eigne frische Gefühl für die Herrlichkeit ihrer Natur ist, wie ein lebender Pulsschlag, auch in diesen Gesängen fühlbar, und wie damals, so strebt auch jetzt die Phantasie, Alles was sie umgibt, mit Gefühl, mit Theilnahme, ja mit Rede und mit Allem zu begaben, was in der menschlichen Brust sich regt und gestaltet: die Vögel, ehedem die Genossen und Dollmetscher der Götter, reden zu dem Menschen, bringen ihm Kunde, trauern über sein Leid, einzeln oder im abwechselnden Lied gegen einander, unter dem mitfühlenden Lispeln der Pinien oder dem einstimmenden Laut der Quellen, oder sie klagen die Frevel an, deren Zeuge sie seyn müssen; [1] es ist das treue Streitroß, welches die Befehle seines Herrn empfängt und ausrichtet, oder gleich dem Gespanne des Achilleus in der Iliade mit ihm Zweisprache hält, wie beim Tod des Bebros, den seine Genossen sterbend am Ufer des Vardari zurückließen: [2]

Am Vardari, am Vardari,
Auf den Fluren am Vardari,
Lieget Bebros an dem Boden,
Und es spricht zu ihm sein Rappe:
„Auf, o Herr, damit wir eilen,
Denn voran sind die Genossen.“ –
„Nicht, o Rappe, kann ich eilen,
Denn ich liege hier zu sterben,
Scharre mit dem Huf die Erde,
Mit dem Silberreif am Fuße,
Fasse dann mich mit den Zähnen,
Daß du in das Grab mich legest.
Doch zuvor nimm meine Waffen,
Daß du sie den Freunden bringest,
Auch das Tuch aus meinem Gürtel,
Daß du es der Trauten bringest,
Weinen wird sie, es erblickend.“

Wie aber diese Dichtung die Thiere den Menschen nähert, so belebt sie in gleicher Weise die Gegenstände der Natur. Die Berge, die Flüsse, ehedem von Gottheiten besessen, deren Gestalt nicht selten auf Bildwerken und Gemälden über Felsen oder in Grotten liegend gefunden wird, verkehren im Gespräche mit einander oder mit den Menschen: der Olympos, unbezwungen und mit kühnen Bewohnern, den Schaaren kriegerischer Räuber bedeckt, rühmt sich seiner Freiheit gegen den Ossa oder Kissabos, den die Türken unterjocht haben:

Der Olympos und Kissabos, die Berge sind im Streite.
Da wendet sich der Olympos zum Kissabos und saget:
„Mit mir nicht hadre, Kissabos, du in den Staub getretner,
Ich bin Olympos, bin der Greis, in aller Welt gepriesen.
Ich habe zwei und vierzig Höh’n und zwei und sechzig Quellen,
An jeder Quell’ ist ein Panier, Zweig’ überall und Laurer.

[3]

In dem Wasser des Flusses aber waltet ein Geist von bestimmter Eigenthümlichkeit, der durch Gesang an das Ufer gelockt wird. Wo die Wittib, darüber gehend, so rührend ihren Gemahl beklagt, daß die Brücke zerreißt, und der Strom aufhört sich zu bewegen, erscheint er am Ufer, und gebietet ihr, die Klage zu enden, und einen andern Gesang zu beginnen.[4] Dieser Belebung äußerer Natur geht die Ansicht zur Seite, nach welcher Thäler und Fluren unter dem Schirm eines wohlthätigen Genius stehen, und das Bestreben, die Erscheinungen des Lebens auf Wesen von bestimmter Persönlichkeit und Gesinnung zu beziehen.

Jener obwaltende Genius, sogar die Ruhe der gefiederten Bewohner in seinem Gebiete schirmend, erscheint, ganz analog der alten Vorstellung, als Drache, [5]und begegnet zürnend dem Jünglinge, der noch in später Nacht in sein Gebiet tritt, und durch seinen lieblichen Gesang die Nachtigallen in ihren Nestern, und die Vögel in den Feldern weckt. Die Pest, πανοῦλα, wird als ein Verein von drei Frauen in schwarzen Kleidern gedacht. Gleich den Schicksalsgöttinnen treten sie zu den dem Tode geweihten in das Haus, und bemächtigen sich ihrer Beute. Die Seuche der Pocken wird von den Müttern als furchtbare Frau betrachtet, aber mit mildem Namen Συγχωρημένη, die Verschonende, bezeichnet, wie in Athen die Erinnyen, die nach Aeschylos Seuchen und Mißwachs bringen, die Eumeniden, die Wohlgesinnten, genannt wurden.

Zumeist aber ist in diesem Kreise von Vorstellungen dem Alterthum die Idee des Todes selbst analog, der bei Euripides in der Alkestis als Θάνατος persönlich auftritt. Alkestis ist ihm verfallen und schon übergeben, als Herakles ankommt. Dieser unternimmt, um sie mit Thanatos zu ringen, besiegt und nöthigt ihn, seinen Raub auszuliefern. Ganz so erscheint der Tod im neu-griechischen Gesange, zwar mit einem andern, doch mit einem mythologischen und analogen Namen, Charon genannt. Er lauert auf den jungen Hirten, der am Morgen singend und heiter vom Gebirge kommt, daheim Nahrung zu suchen, und hält ihn an. [6]

Der Jüngling fleht vergeblich um sein Leben, und versucht dann mit ihm, gleich dem Alciden, den wiewohl ungleichen Kampf:

 „Laß mich, o Charon, laß mich frei, o gönne mir zu leben!
 Daheim hab ich ein junges Weib, nicht darf sie Wittib werden,
 Und die unmünd’gen Kindelein ließ’ ich zurück als Waisen.“
 Doch Charon höret nicht auf ihn und will ihn rasch ergreifen.
 „O Charon ist es so bestimmt, und willst du mich ergreifen,
 Wohlan, so laß uns kämpfen hier auf dieser Marmorplatte.
 Wenn du, mein Charon, mich besiegst, geb’ ich dir meine Seele,
 Doch wirst du selbst von mir besiegt, dann geh, wie du gekommen.“
 Sie gingen, rangen hart im Kampf, vom Morgen bis zum Mittag;
 Doch als der Tag zum Abend ward, warf Charon ihn zu Boden.

Aus dieser Dichtung ist auch jene Ballade hervorgegangen, welche die Bewunderung von Göthe erregt und durch die Aufgabe für zeichnende Künstler, welche er darauf gründete, allgemeinere Verbreitung gefunden hat. Sie ist in demselben fünfzehnsylbigen Jambus verfaßt, welcher sich hier in der ganzen Kraft seiner Tonfälle und im vollen Schwunge seines raschen Ganges bewegt: [7]

  1. Bei Fauriel II. S. 392.
  2. Das. II. S. 134.
  3. Das. I. S. 38.
  4. Das. II. S. 80. τὸ στοιχεῖον τοῦ ποταμοῦ.
  5. Das. II. S. 391.
  6. Das. II. S. 90
  7. Das. II. S. 728.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_605.jpg&oldid=- (Version vom 24.9.2023)