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Das Ausland. 1,2.1828

auf Dichtkunst ein merkwürdiger Gebrauch sich unverändert aus frühester Zeit erhalten hat.

Bei dieser allgemeinen Lust und Liebe zur Dichtung wird jede öffentliche Begebenheit zu Lied und Gesang, und so liefern auch die Feste, die Feiern, die Trauer des häuslichen Lebens dieser Dichtung unerschöpflichen Stoff, und keinem Kenner des griechischen Alterthums wird entgehen, daß wir uns auch hier mit der neuen Dichtkunst auf altem Grund und Boden befinden. Nicht in den kunstreichen Gebilden des lyrischen Chores, nicht in den aus ihnen hervorgegangenen Wettkämpfen der öffentlichen Spiele, des Theaters zumal, oder in den Päanen, Hymnes, Dithyramben ist die Grundlage der alt-griechischen Poesie oder die ursprüngliche poetische Anlage des hellenischen Stammes zu entdecken, sondern hunter jenen Schaustellungen einer ausgebildeten Kunst in den Liedern, von denen auch im Alterthum die Vorgänge, wie die Geschäfte des gewöhnlichen Lebens mit seiner Mühe, Lust und Trauer umgeben und geschmückt waren, und hier treffen in alter und neuer Zeit Stoff, Gesetze, Bestimmung der Poesie, ja zum Theil Namen und Feste zusammen. Wie damals in dem Gesange der Eiresione beim Wechsel des Jahres, der Tag des Apollo von Knaben gefeiert wurde, die von Hause zu Hause mit Lob und Wünschen für die Inwohner zogen, so noch jetzt in gleicher Weise und zur selben Zeit der Tag des heiligen Basilius; wie früher im Chelidonismos , wo wird jetzt mit dem Lied auf die Schwalbe die Wiederkehr des Frühlings in gleichem Umgange gepriesen. Bei der Panegyris, der Versammlung der Gemeinden zu gemeinsamem Feste, wo sich im Freien unter Begleitung der viersaitigen Leyer, die noch jetzt das Plektrum schlägt, Chöre der Jungfrauen und Jünglinge zum Tanze ordnen, tönen, wie ehedem die Hyparchemat, so auch jetzt die Gesänge zum Reigen, und so entsprechen dem Eretikon die Weisen der Ruderer, dem Himäus die Lieder der Frauen am Brunnen, dem Litierses, was von den Schnittern, dem Epilenios, was bei der Weinlese und Kelter gesungen wird. Der Epithalamios hat sich in eine Fülle von Liedern ausgebreitet, mit denen die Braut eingeholt, der Bräutigam begrüßt, das Paar zur Kirche geleitet und beim Festgelage gefeiert wird, und der Olophyrmos und Threnos in eine nicht geringere Fülle von Klaggesängen, in welchen beim Todesfall die Gattin, die Kinder, die Aeltern, die Verwandten ihren Schmerz bei der Leiche, bei der Beerdigung und noch spät nachher bei dem Grabe ergießen. Was also ist die neugriechische Poesie anders, als jene, in dem Volke selbst wurzelnde, mit seiner innersten Natur verschmolzene, die Begebnisse des Lebens unmittelbar durchdringende, ursprüngliche Poesie des griechischen Alterthums? Ihre kunstreichsten Formen und Gebilde sind vergangen, aber das Wesentliche, das Einfache, das Unmittelbare derselben, aus dem auch jene Gebilde hervorgingen, ist geblieben. Als ein kostbarer Besitz hat diese Gabe der Musen das Volk durch die Jahrhunderte herab begleitet, seine Leiden mit ihrem Trost, seine Freude mit ihrer Lust geschmückt, und erscheint nun wieder, bewahrend die einfachste musikalisch-rhythmisches Weise des Alterthums, waltend und bildend, in einem, der fernsten Zeit analogen Kreise von Ansichten und Phantasien, und doch neu und eigenthümlich, die jüngste Offenbarung des in sich unverwüstbaren und aus jeder Bedrängniß unversehrt hervorbrechenden griechischen Geistes, die sicherste Beglaubigung der Hoffnungen, die sich an die Auferstehung der berühmtesten und unglücklichsten Nation für die Bildung geknüpft haben. Denn kein Zweifel ist, daß die poetische Anlage, wo sie mächtig und schaffend ist, nicht als etwas einzelnes und für sich bestehendes, wie beim Individuum, so bei Völkern, sondern als das Zeichen eines im Allgemeinen großen, regsamen und weitgreifenden geistigen Vermögens zu betrachten ist. Wie im alten Hellas die poetische Bildung in dem Namen und der Herrlichkeit Homer’s vereinigt, der gemeinsame Stamm alles des Großen und Herrlichen wurde, was später der hellenische Geist entfaltete, so kann auch aus dieser frischen und vielgestaltigen geistigen Kraft, die in dem neu-griechischen Gesange sich offenbart, unter dem jüngsten Geschlechte jener ruhmreichen Ahnen ein ähnliches Gedeihen hervorgehen, wenn es im Rathe der Vorsehung beschlossen ist, daß sie aus diesen Stürmen und so großer Zerrüttung zu Gesetzlichkeit und Ruhe gelangen, und in die Reihe wohlgeordneter Völker des christlichen Europa wieder eintreten. Dann wird vergönnt seyn, auf das verjüngte Griechenland den Lobgesang nach seinem ganzen Inhalte wieder anzuwenden, den vor mehr als zweitausend Jahren einer der reichbegabtesten hellenischen Sänger, Euripides, auf Attika gedichtet: [1]

Erechtheus Enkel, seit fernster Zeit beglückt,
     Der seligen Götter Geschlecht,
Die ihr vom heiligen unvertilgbaren Land
Abpflückt der Lieder herrlichste Weisheit,
     Hinwandelnd mit heiterm Sinn
     Durch des Aethers lautersten Schein,
Wo einst die neun pierischen Jungfrau’n der blondgelockten
     Hamonia gepfleget,
Und aus des Kephissos schön strömender Fluth
Aphrodite schöpfend die Flur anhauchte
Mit lieblicher Lüfte sanftgemischtem Weben,
     Und immer schmückend ihr Gelock
     Mit süß duftender Rosen Gewind
Als Genossen der Weisheit zu Euch sandte der Liebe Götter,
     Jeglicher Ruhmesthat Vollbringer.

  1. Eurip. Medea. V. 829 ff.


Der Himmel der Chinesen.

Der Ausdruck dessen sich die Chinesen bedienen, um die Gottheit zu bezeichnen, ist T’hien, welcher Ausdruck eigentlich den materiellen Himmel, die Wolken bezeichnet. Daraus zu schließen, daß die Chinesen keinen Begriff von einem „höhern Wesen“ haben, wie gewöhnlich geschieht, möchten wir indessen für voreilig halten; zumal da wir dieselbe Metapher in allen europäischen Sprachen wieder finden. Mit mehr Recht könnte man jene Folgerung vielleicht aus einer Anekdote ziehen, welche man von Tschu-tsze, dem Verfasser des Siao-hio oder „kleinen Lehrers“ erzählt, der in China als die glänzendste Zierde der Sung Dynastie angesehen und nur dem großen Kong-fu-tsze nachgesetzt wird. Als Tschu-tsze noch ein Kind war, zeigte sein Vater auf den Himmel und rief aus: T’hien! um ihn die Bedeutung dieses Wortes zu lehren. Aber der Knabe antwortete sogleich: „Was gibt es über dem Himmel?“

Asiat. Journ.

Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_614.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)