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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

unsre Völkerkunde ausging, und jetzt noch das fabelnde Land der Mythen, der Gnomen und der Parabeln – sollte es vor uns, die wir uns streng an die unpoetische Wirklichkeit zu halten pflegen, Gerechtigkeit finden? – „Die Dichtung,“ sagt Baco, „gibt den Sterblichen, was ihnen die Geschichte verweigert; sie befriedigt den Sinn durch die Schattenbilder der Dinge, da sie ihn das Wesen nicht schauen lassen kann.“ – Werke der Dichtung sind es, denen die ersten Geister des Morgenlandes ihre Talente gewidmet und so viel Anmuth und Schönheit verliehen haben, daß sie ein Eigenthum aller Völker der Erde geworden sind. Der große Einfluß dieser Werke auf Europa schreibt sich ungefähr von den Kreuzzügen her, und, wenn unser Welttheil den heiligen Kriegen sonst nichts zu verdanken hat, so mögen schwärmerische Verehrer dieser Gattung der Poesie die Erzählungen Boccaccio’s und ähnliche Erzeugnisse als vollen Ersatz für alles vergossene Blut und für alle verschwendeten Schätze betrachten!

Aus den reichen Fundgruben des Morgenlandes hat Shakspeare die Grundidee zu seinem Kaufmann von Venedig geschöpft. Die Geschichte des Mahommedaners und des Juden findet man bei mehreren morgenländischen Schriftstellern. In einer persischen Bearbeitung verbindet sich die Liebe mit der Habsucht in der Brust des Hebräers, der sein brünstiges Auge auf die Gattin des Mahommedaners geworfen hat und erwartet, daß diese, wenn er auf der Erfüllung des Contracts beharre, um ihren Mann zu retten sich zu einem Opfer verstehen werde. Die Parteien sind vor Gericht und der Jude begehrt das verwirkte Pfund Fleisch. „Was antwortest du darauf?“ sagt der Richter zu dem Mohammedaner. „Es ist so,“ erwiedert dieser, „ich bin das Geld schuldig, aber außer Stand, zu bezahlen.“ „Dann,“ fährt der Richter fort, „mußt du, weil du mit der Zahlung nicht eingehalten hast, das Pfand geben; man bringe ein scharfes Messer.“ Darauf gegen den Juden gewandt: „Jetzt schneidest du ihm ein Pfund Fleisch vom Leib, ein Pfund, und keinen Gran mehr oder weniger, widrigenfalls du ein Mörder und des Todes schuldig bist.“ „Ich kann das nicht so genau,“ sagte der Jude, „es wird immer etwas mehr oder weniger seyn.“ Der Richter besteht auf dem genauen Gewicht; der Jude will auf seine Forderung verzichten; allein dieß wird nicht gestattet: er soll entweder den Contract mit dem ganzen Wagniß vollziehen, oder wegen frevelhafter Lebensgefährdung in eine erkleckliche Geldstrafe verfallen seyn; er zieht das letztere vor und geht als geprellter Wucherer nach Hause.

Vorausgesetzt, daß durch die Saracenen diese Erzählungen und Apologen nach Europa gebracht worden sind, so fragt sich, woher sie die Saracenen erhielten. Mahmommed und seine unmittelbaren Nachfolger, die der poetischen Erfindung als gottlosem Lügenwerk den Krieg erklärten, beschuldigten die Perser des Besitzes und der Verbreitung desselben. Allmälig wurden die Kaliphen jedoch weniger zelotisch und der Geschmack an persischen Geschichten und arabischen Mährchen erwachte von Neuem. Die Zeit ist nicht ferne, wo man Arabien und Persien als die beiden Hauptquellen dieses Zweigs der Literatur ansah, als man die heilige Sprache der Hindus noch nicht kannte. Als man aber in dieser die Hitopadesa, die Pancha-Tantra und den Kath-Sarit-Sagar, den Ocean des Stroms der Erzählung, las, da entdeckte man, daß die Perser nicht allein das leibliche, sondern auch das geistige Gut und Vermögen ihrer östlichen Nachbarn geplündert, und um den Raub zu verbergen, theils die Namen verändert, theils an die Stelle der Götter und Göttinnen des indischen Pantheons ihre Magier und alle die Geister des Himmels und der Erde, die Zoroasters Schule angehören, gesetzt hatten.

(Fortsetzung folgt.)


Alexander de la Borde’s Reisen in der Levante.


(Schluß.)

Nichts gleicht dem Erstaunen des Reisenden, der nach Durchwanderung des ottomanischen Reichs in Egypten ankommt. Hier trifft er das Zuckerrohr und die Baumwollenstaude im Großen gepflanzt, wie in Indien; zwanzig Manufacturen, geräumiger und eben so ordnungsmäßig geleitet wie die in Manchester; reguläre Truppen, exercirt wie in Frankreich; endlich einen Pascha, der den Constitutionnel liest. Nur Eines Mannes Geist bedurfte es, um wie durch Zauberei solche Wunder zu schaffen, und in zehn Jahren die Boden-Cultur, die Industrie, die Sitten und die Regierungsform eines Landes umzugestalten; ist aber dieses Land glücklich? Dieß allein ist die Frage. Mehemed-Aly, der keine Bürgschaft für die Zukunft hat, und deßwegen jene Veränderungen möglichst schnell ins Werk setzen wollte, mußte das Monopol des Gedankens wie der Arbeit an sich reißen. Er mußte die Bewegung vorwärts drängen, um rasch zu einem Resultate zu gelangen. Er sagte sich: das, was ich gethan habe, wird sich vielleicht erhalten; was ich aber vernachläßigte, wird nie zur Ausführung kommen. Daher jene gewaltsame Handlungsweise, jene ausschließliche Gier nach schnellem Gewinn, jenes augenblickliche Elend des Landes. Entschließt sich Mehemed-Aly aber sein Monopolsystem aufzugeben und entsagt er vor Allem der beklagenswerthen Expedition, in die er sich hineinziehen ließ, so wird sein Land eben so glücklich werden, als es durch ihn cultivirt geworden ist. Schon sind auf seinen Befehl Commissarien in die Provinzen geschickt, um statt des Monopols eine feste Steuer zu bestimmen; auf mehreren Puncten sind Schulen gegründet; vierzig junge Leute der ersten Familien werden in Frankreich erzogen; hundert andere studieren in Kairo in der Schule des Generalstabes, die von einem ausgezeichneten französischen Offizier, Hrn. Plana, geleitet wird; hundert und fünfzig hören den medicinischen Cursus, um, nachdem eine Kluft von zehn Jahrhunderten dazwischen liegt, dem Avicenna und Averroes Nachfolger zu bereiten. Ueberall verschwinden mit der Unwissenheit auch die Vorurtheile. In einer der Vorlesungen über Anatomie, der ich beiwohnte, fragte der geschickte Professor, der diesen Unterricht leitet,

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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_664.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)