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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

aller Häfen, und eine allgemeine Ausrüstung von Korsaren, die Macht Englands zerstören könnte.

Um gerecht zu seyn, müßte man noch hinzufügen, daß zu London, an der Seite einer Machiavellistischen Regierung, im Brennpunkt des englischen Patriotismus, der freilich nur zu oft nichts als ein kräftiger Nationalegoismus ist, eine Tribüne sich erhebt, wo das Recht und die Freiheit der Völker ein Organ findet, wo über die Handlungen fremder Regierungen und des großbritannischen Ministeriums selbst eine strenge Kritik ergeht, wo letzteres schon mehr als einmal in demüthigenden Verhören Rede zu stehen oder gegen gerichtliche Anklagen sich zu vertheidigen hatte. Das Joch des römischen Volks drückte schwer, aber der Bauer Illyriens konnte doch seine Beschwerden im Senat laut werden lassen. Wo soll man aber damit in Rußland hin? Um es gerade zu sagen, es ist in Rußland derselbe Fall wie in Konstantinopel, daß sich eben Alles im Innern des Palastes macht, daß, so lange der Herr lebt, er der Absolute, der Allmächtige ist, dessen Fermane oder dessen Ukasen mit der Schnelligkeit und der Strenge eines Militärbefehls vollzogen werden. Zwar die Revolutionen in diesem Innern sind häufig und schrecklich; unbemerkt jedoch geht Alles vor sich unter dem dichten Schleier, in die die Autorität des Augenblicks sich hüllt. Wie manche Parallele ließe sich zwischen diesen beiden Reichen ziehen, welche eben sowohl Asien als Europa angehören! Was wären die Russen, wenn sie nicht seit hundert Jahren von fremden Souveräns beherrscht würden? Was könnten die stolzen Ottomanen seyn, wenn es in des Sultans Macht stände, die seit drei Jahrzehnten begonnene politisch-religiöse Wiedergeburt zu vollenden?

Vorweg müssen wir einen nur zu allgemein verbreiteten Irrthum widerlegen, wenn man von allen Seiten von Rußlands „unermeßlicher Ausdehnung, dünngesäter Bevölkerung, mäßigen Einkünften“ sprechen hört. Unsere Gegenbehauptungen sollen sich durch Thatsachen rechtfertigen. Die Bevölkerung der neun innern Gouvernemens, – Moskowa, Riasan, Tula, Kaluga, Orel, Tambow, Kursk, Poltawa, Kiew, Podolien – welche das Land von Moskau bis an den Dniester und Pruth in sich begreifen, beläuft sich auf 12,000,000: Zahl und Vertheilung der Einwohner ist wie in Preußen, die Einkünfte sind dieselben, aber Rußland hat das voraus, daß es fruchtbarer ist. Indessen gibt es mehrere Gouvernemens, die, was den Reichthum des Bodens, den Gewinn der Industrie und des Handels betrifft, noch besser stehen; es gibt ganze Provinzen, die wenigstens Schottland und Spanien, und namentlich die europäische Türkei an Bevölkerung und Fruchtbarkeit übertreffen. Das Uferland des schwarzen Meeres zeichnet sich durch seinen Ueberfluß an Getreide aus. Endlich liegen die entvölkertsten und unangebautesten Theile Rußlands, die von 16 bis 175 Einwohnern auf die Quadratmeile zählen, gegen das baltische, das weiße, das kaspische, das asowsche Meer und gegen den Ural. Das mit großen Wäldern bedeckte Lithauen, mit 495 bis 870 Einwohnern auf die Quadratmeile, gehört zu den am Wenigsten fruchtbaren und reichen Ländern; und doch haben es die Czare nicht verschmäht und sich dessen bemächtigt, um in die Mitte Europa’s vorzudringen.

Ich will mich aber auf die einzige Thatsache berufen, die sich nicht wegvernünfteln läßt: wer will leugnen, daß Rußland 800.000 Mann unter den Waffen hält? daß es auf seiner südwestlichen Grenze in erster Linie 180,000, in zweiter Linie 100,000 Mann aufgestellt hat, ungerechnet mehrere Corps, die auf den andern Grenzen vertheilt sind? daß es seine schlagfertigen Reserven, seine bleibende Soldatenpflanzschule in den Militärkolonien, seine Kosacken, seine unregelmäßige Reiterei besitzt? Die Schwierigkeit, große Truppenmassen zu vereinigen, zeigt sich nur bei der ersten Vereinigung, weil bei Heeren, die einmal ihre Standquartiere haben, und bei Soldaten, die der Staat an einen fünf und zwanzigjährigen Dienst kettet, nur selten Ergänzungen nöthig und die nöthigen nicht schwierig sind. Da die südlichen Provinzen Getreide vollauf erzeugen, so können die Lebensmittel nie fehlen; die Zufuhr derselben aber wird durch das Medium der innern Schifffahrt ungemein erleichtert. Die Cabinete können sich von der Richtigkeit dieser Angaben selbst überzeugen. Was ich anführe, habe ich aus authentischen Quellen geschöpft. Uebrigens wird der Marsch und das Vorrücken der Russen bald alle Streitfragen überflüssig machen.

Mag Europa eine Partei ergreifen, welche es will; – der Franzose hat nicht vergessen, und keiner weniger als ich, wie sehr England unser Feind war und wie theuer uns Großbritanniens Nebenbuhlerschaft zu stehen kam. Doch lassen wir die Vergangenheit und beschäftigen uns mit dem, was unserem Vaterland jetzt Noth thut. Hätte Frankreich blos von Seiten Englands etwas zu fürchten, so müßten wir Schiffe bauen und Flotten ausrüsten, statt Schlachthaufen zu bilden; alle unsre Aufmerksamkeit müßte sich gegen das Meer wenden. Wer sich nun aber auch die übertriebensten Dinge von der brittischen Seemacht einbildet, wird denn doch nicht in Abrede ziehen, daß als Seemacht allein uns England ungefährlich bleibt, so lange seine Landmacht wegfällt, die indessen Frankreich auf dem Feld der Ehre achten gelernt hat. Was sich also am Meisten gegen das in dem zweiten Aufsatze geltend gemachte System anführen läßt, ist, daß während dasselbe uns alle Gefahren von der See her verkündigt, es uns gegen den Osten hin in eine Sorglosigkeit versetzt, die verderblich werden könnte.

Ich will mich so deutlich ausdrücken, als gewisse Schicklichkeitsrücksichten es erlauben. Die Schlacht von Navarin ist ein Ereigniß, das sich in den Augen der Völker durch das Unglück Griechenlands und selbst durch den Ruhm der Sieger gerechtfertigt hat. Aber schwer möchte es halten, jetzt auch den Angriff Rußlands zu rechtfertigen. Verdankte nicht diese Macht im J. 1812 ihre Rettung dem Friedensvertrag mit der Türkei? Hat sie nicht auf allen Congressen die Legitimität des Sultans wie aller andern Souveräne feierlich ausgesprochen? Weiß man nicht, daß die Pforte ihre Bereitwilligkeit zu unterhandeln erklärt hat und noch jeden Augenblick erklärt? Cannings Hand – man muß es gestehen – wäre allein stark genug gewesen, die europäische Politik auf der Grundlage des

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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_676.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)