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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

einzuhauchen? Zum Mindesten also müßte man untersuchen, wo sich die Civilisationselemente am Ehesten finden, bei den drei Millionen Ottomanen oder bei den vier Millionen Rayas, die seit sechs Jahrhunderten das alte Thrazien inne haben?

Die Frage wird noch verwickelter durch die Lage von Konstantinopel. Es wäre zu wünschen, daß diese zweite Hauptstadt der alten Welt von Neuem der commerzielle Mittelpunkt des Morgenlandes würde, und seinen Hafen allen Nationen öffnete. Sollte die Verwirklichung einer im Sinne der Menschheit so schönen Idee möglich seyn, so wäre es unklug, ihre Ausführung in die Hand einer einzigen Macht zu legen. Alle Mächte müßten mitwirken, weil alle beinahe gleich betheiligt sind. Die Bestimmung der Donau ist, eine Haupthandelsstraße des Kontinents zu seyn. Oesterreich und selbst Bayern ergießen durch sie ihre Gewässer in das schwarze Meer, dessen Schifffahrt und dessen Küsten lange Zeit dem Handel Frankreichs und Italiens angehört haben.

Man will uns glauben machen, daß die Einverleibung der Türkei ein Grund der Schwäche für Rußland, wie der Ruhe für Europa seyn würde. Man höre den Grund! – Weil dieses kolossale Reich eine weitere Küstenstrecke von 60 geographischen Meilen zu vertheidigen, weil es den Krieg in Anatolien fortzusetzen hätte. – Müßte es aber als Beschützer des neu zu errichtenden Staats nicht ebenfalls unter den Waffen bleiben? Uebrigens einmal im Besitz des Hellesponts hätte sicherlich Rußland wenig mehr zu fürchen, weder von Preußen, das sein Verbündeter seyn soll, noch von Oesterreich, das ja so leicht über den Haufen zu werfen ist, noch von den englischen Flotten, die keine Dardanellen mehr durchsegeln würden. Wird alsdann aber Moskau, die eigentliche Hauptstadt des russischen Landes und seiner Macht, weniger schwer auf dem Kontinent liegen, als die von den Elementen bedrohte provisorische Hauptstadt St. Petersburg, die eines Tags nichts seyn wird als das Zeughaus des baltischen Meers?

Mit der Berufung auf die früheren Kriege ist Nichts bewiesen. Die Türken sind von keiner europäischen Macht je wirklich unterstützt worden. Im J. 1769 hatten sie mit ihren Bundesgenossen, den Polen, bei Chotzim über den Dniester gesetzt und drangen in Podolien vor. Choiseul, der damals Polen und die Türkei gegen Rußland in Schutz nahm, schickte Dumouriez zu den Verbündeten, und der französische Offizier träumte schon von einem Feldzuge gegen Moskau. Allein bald darauf befand sich Aiguillon an der Spitze des Cabinets von Versailles, während Oesterreich und Preußen durch die Theilung Polens geködert wurden, welche damals schon im Werk war. In den Jahren 1806 und 1810 erlaubten die Kriege, welche die europäischen Mächte unter sich führten, ihnen nicht, sich in die Angelegenheiten der Türkei zu mischen; auch waren die Ottomanen damals nicht in ihrer Existenz bedroht. Sollten nun im jetzigen Augenblicke die Türken so leicht zu besiegen seyn? Wenn die mechanischen Evolutionen der Russen auch besser geleitet sind, so werden sie davon in den Pässen Bulgariens und Rumeliens wenig Vortheil haben, zumal da es den Türken diesmal an Rath und Hülfe nicht fehlen dürfte.

Soll man glauben, daß die Herrscher von Tiflis und dem caspischen Meer den Weg nach Konstantinopel und selbst nach Wien blos deswegen einschlagen werden, um Indien zu erobern? Soll man es gerade jetzt glauben, da sie mit Persien Frieden geschlossen haben? Nein, ihre Basis stützt sich auf das schwarze Meer.[1] Vorausgesetzt, daß sie wirklich Absichten auf Hindustan hätten, würden sie nicht in diesem Fall die bestehende, ihnen so nützliche, Verbindung mit der Pforte enger geschlossen und dagegen ihre Anstrengungen wider die Perser wenigstens bis nach Asterabad, dem südlichen Hafen des caspischen Meers, dem eigentlichen Stapelplatz zwischen diesem Meere und dem Indus, fortgesetzt haben? Aber was wäre zuletzt für sie gewonnen, wenn sie auf diesem neuen mehrere tausend Meilen von Großbritannien entfernten Schauplatze nun auch wirklich auf die Engländer träfen, während diese, durch die Ausrüstung einiger Linienschiffe nach dem schwarzen Meer, dem Krieg eine ganz andere Gestalt geben könnten? Ueberhaupt, was kann Rußland an den eingebildeten[2] Reichthümern Indiens liegen, im Vergleich mit den Vortheilen der Propontis und des Sundes, deren Besitz ihm zur Entwicklung seiner innern Kraft unentbehrlich ist? Die Früchte einer so entfernten Eroberung zu ernten;

  1. Rußland hat mit seinen Vernichtungsplanen gegen das türkische Reich nicht gewartet, bis seine Basis erweitert, seine Seiten durch den Besitz Polens, Finlands und der Ufer des Pontus Euxinus gedeckt waren. Lange vor der Unterjochung dieser Länder ließ der brillantirte Wilde, der groteske Repräsentant des moskowitischen Reichs, Potemkin, auf das Thor von Cherson schreiben: „Weg nach Konstantinopel.“ Er rechnete damals nicht darauf, über Wien sich dahin zu begeben: wie seine Gebieterin machte er Joseph II den Hof. Aber der deutsche Kaiser, der den falschen Glanz, womit man ihn zu blenden suchte, nach dem wahren Werth schätzte, sagte zu unserem Gesandten, Segur: „Ich werde nicht zugeben, daß die Russen sich in Konstantinopel festsetzen. Die Nachbarschaft der Turbane ist für Wien immer noch weniger gefährlich als die der Czackes.“
  2. Der indische Handel ist nicht mehr in jenem glänzenden Flor, wie vor etlichen und zwanzig Jahren. Die ostindische Compagnie ist in ihrem Monopol wie in ihrer politischen Macht beschränkt worden, ihre Ausgaben haben ihre Einnahmen überstiegen. Die unmittelbare Schifffahrt von beiden Amerika und vom russischen Asien aus ist es, welche den Handel der Engländer; so wie der Bund der Mahratten, der zwar äußerlich gesprengt, aber noch vorhanden ist, das neue Reich der Afghanen, der Geist der Meuterei unter den eingebornen und selbst unter den englischen Truppen, die Bestechlichkeit der Beamten, endlich die in den neuen Geschlechtern emporkeimende Civilisation, welche ihre Herrschaft bedrohen. Montveran, der genau unterrichtet ist, sagt (Histoire de la Situation de l’Angleterre, Vol. VIII, p. 367): „Ich werde nachweisen, daß die Britten mehr aus Dünkel und Herrscherstolz, als wegen reeller Interessen dieses Reich behaupten.“ – Warum sollte also Rußland seine Heere nach Indien führen, da die Karavanen Hochasiens Rußland in Astrachan und auf dem Markte von Nischnei-Novogorod suchen?
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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_685.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)