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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

den Welthandel streitig zu machen, oder nur ihn zu benutzen, ist es noch lange nicht Seemacht genug.

Wenn jedoch der ausbrechende Vulkan, was wir nicht glauben, gegen den Orient, auf Asien seine unheilsprühende Lava schleudert, und in Beziehung auf uns blos von einer Handelsfrage dabei die Rede seyn kann, so laßt uns schnell alle Anstöße entfernen. Zu glücklich wäre Europa, den Kampf zwischen der Türkei, Rußland und England nach der fernen asiatischen Grenze verlegt zu sehen. Aber wenn alle Anzeigen, alle Beweise dafür sind, daß die moskowitische Streitmacht sich gegen den Süden des Kontinents richtet, so laßt uns sie aufhalten, so lang es noch Zeit ist.

Die Geographie, wie alles geschichtliche Wissen, ist in unsern Augen keineswegs die Hauptsache. Aber sie stellt uns auf der militärischen Wagschale der Mächte gewisse Verhältnisse dar, die der Compaß angeben kann, und deren Bedeutung der Verstand zu würdigen weiß. Als der Sieg uns auf seinen Flügeln von der Oder nach der Moskowa trug, da ging es durch ziemlich fruchtbare und bevölkerte Landschaften, nirgends sahen wir Einöden, unangebaute Steppen, eisbedeckte Meere. – Sollen wir nun noch darthun, daß die Grenzen wie die Hauptstädte eines Staates, Einfluß auf dessen Schicksal haben? – Man hätte in der That sehr Unrecht, wollte man jenem zwischen Oesterreich und Preußen tief einschneidenden Winkel des russischen Polen deswegen alle Bedeutung absprechen, weil sich noch keine imposante Festung darauf befindet: als ob nicht schon der Besitz dieses Landes allein Rußland in den Stand setzte, seine Heere, die sich von Kowno bis Dubno ausdehnen, auf geradem Weg und selbst ohne Wissen der benachbarten Mächte, auf einem Punkte daselbst zu concentriren; oder als ob Rußland nicht in kurzer Zeit die europäische Citadelle, die in unserem ersten Aufsatze angedeutet ist, wirklich bauen könnte.

Damit genug. Uebergehen wir einige Punkte, die noch einer Erörterung bedürften, um nicht zwischen zwei Männern, die von gleicher Vaterlandsliebe beseelt sind, einen Streit zu verlängern, der nie hätte begonnen werden sollen. Mag die Zukunft entscheiden.

Nachschrift.

Während Europa berathschlagt, handeln die Russen; man wird bald hören, daß sie ihren Hauptzweck erreicht haben. Ihre Mäßigung und Uneigennützigkeit versichernd fordern sie von denen, welche sie angreifen, Schadloshaltung, Gewährleistungen, ein künftig unantastbares Recht, den Bosporos zu beschiffen; sie erklären zu gleicher Zeit, daß keine Unterhandlung die militärischen Operationen aufhalten solle. So sehen wir also wieder einmal einen Gelegenheitskrieg. Kein Wort des Beifalls oder des Tadels. Ich sage blos; Europa kann die Folgen zu büßen haben.

Was wollen die Russen in diesem Krieg? Wollen sie die ganze europäische Türkei? Nein, sondern Konstantinopel nebst der Propontis und der westlichen Küste des schwarzen Meers! Diese Hauptstadt, eben so See- als Landstadt, vermag zumal nach den Verlusten der Navariner Schlacht nicht einem zu Wasser und zu Lande zugleich auf sie gerichteten Angriff zu widerstehen. Wenn die englische Flagge nicht im Bosporos weht, wenn die österreichischen Heere nicht marschiren, so werden die Russen nicht mit Führung eines regelmäßigen Kriegs ihre Zeit verlieren; sie können den rechten Flügel der türkischen Linie durchbrechen, und eine durch Landungen zu Burgas, Ainada und Midia unterstützte Heersäule auf Konstantinopel werfen. Diese Operation würde dadurch maskirt, daß die Heerhaufen des Centrum, die auf der Straße von Silistria gegen Adrianopel vorrückten, die türkische Hauptmacht beschäftigen, während der rechte Flügel sich bei Koblowa am Balkan aufstellte, wo die Straßen von Rustschuk und Orsowa zusammenlaufen, um Servien zu beobachten.

Bald wäre den englischen Schiffen der Eingang ins schwarze Meer versagt, an dessen südlichen Küsten die Russen herrschten. Gedrängt zu Wasser und zu Lande, zertrümmert durch das Feuer der Flotten und das Feuer des gelandeten Geschützes, mit völliger Verbrennung bedroht, könnte Konstantinopel vor Ende des Juni unterliegen. In dieser letzten Noth könnte die Ankunft der englischen Hülfe es nicht mehr retten.

Herren von Byzanz, werden die Russen fortfahren, ihre Mäßigung zu versichern; sie werden Waffenstillstände und Unterhandlungen vorschlagen. Sie werden einen Aufruf an die Rayas ergehen lassen, eine Regierung und einen Souverän zu wählen – unter dem Schutz ihrer Schlachthaufen. So haben sie Polen an sich gerissen und es lange Zeit besetzt gehalten, ehe sie es endlich theilten.

Indessen befestigen sie Constantinopel oder einige Theile der Stadt; sie lassen ein Korps von 20,000 Mann, eine Flotte nebst Brandern daselbst, um die Reste der Muselmänner im Zaum zu halten und ihnen den Beistand von der See abzuschneiden; in einem bis zwei Monaten ist die Stadt beinahe unangreifbar. Die große russische Armee aber nimmt eine Centralstellung in der Gegend von Adrianopel, theils gegen die ottomanischen Korps, die von Bosnien, Rumelien etc. anrücken, theils gegen die christlichen Mächte, die etwa versucht werden möchten, der Pforte zu Hülfe zu kommen.

Die auf Konstantinopel geworfene Heersäule ist nicht gegen die Grundsätze der Kriegskunst, denn das auf dem Bosporos gelassene Corps wäre in keinem Fall preisgegeben, weil seine Verbindungslinie und seine Zufuhr über das schwarze Meer gesichert blieben.

Dieß sind die Gefahren, auf die wir aufmerksam machen wollten. Nach dem Fall von Konstantinopel hätte Europa die Wahl, entweder von den Russen sich seinen Theil an der Beute zu erbitten, oder als erste Friedensbedingung die schnelle Räumung dieser Hauptstadt und des Landes bis an den Balkan zu fordern. Die Sachen stünden zwar schlimm, aber wären noch nicht verloren. Gallipoli war die erste Eroberung der Türken in Europa; über Gallipoli könnten sie Hülfe von der See und aus Asien empfangen.


Berichtigung.

In Num. 162 S. 645 S. 2 Z. 9 v. u. statt ungünstigen lies günstigen.


Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_686.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)