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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 170. 18 Juny 1828.

Scenen aus dem politischen Leben in Frankreich

[1]


Die Amtsversicherungs-Gesellschaft.

Im Jahr 1825 befand ich mich auf der Präfektur der Polizei und wartete bereits seit zwei Stunden auf den Augenblick, wo man die Gnade haben würde, mir meinen Paß auszufertigen. Ich hatte Zeit, den unhöflichen barschen Ton einer Masse von Commis zu bewundern, die mit den Manieren von Wilden auch das abschreckende Aussehen derselben verbanden, so daß man hätte darauf schwören mögen, es stecken nicht Signalemens, sondern lauter Todesurtheile in ihren Federn. Unter diesem Schreibervolke (foule de griffonnaciers), das wahrscheinlich glaubte, die Bürger bezahlen sie bloß deswegen, um sich von ihnen anschnauzen zu lassen, fiel mir ein einziges civilisirtes Gesicht auf, das mir vorkam wie eine Blume in der Wüste. Ich wechselte mit dem freundlichen Manne ein paar Worte und erfuhr von ihm, daß er sich Visatout nannte.

Einige Tage nachher – es war im Passage der Panoramen – wollte der Zufall, daß ich ihn anrannte; er nahm meine Entschuldigung lächelnd auf; wir geriethen in’s Plaudern; ich kann mir in der That nicht vorstellen, was ihm an meiner Person so gefiel, doch kurz, er lud mich ein, ihn in seiner Wohnung zu besuchen, und ich weiß selbst nicht, warum, ich nahm seine Einladung an. Ich darf wohl sagen, von jenen unsichtbaren Banden, die manchmal gleich bei der ersten Begegnung zwei Menschen an einander ketten, verspürte ich Nichts; indessen war die Bekanntschaft gemacht; es verging nicht leicht ein Tag, ohne daß wir einander sahen, und man hätte uns für Busenfreunde halten können; allein weit gefehlt: wir waren mit einem Sprung über die Freundschaft hinweg zur Vertraulichkeit gelangt.

Man findet übrigens an Herrn Visatout eine merkwürdigere Bekanntschaft, als man sich beim ersten Anblick verspricht: er ist einer von den Menschen, welche als eine Art Kollektivwesen die Civilisation darstellen, so wie dieselbe durch das Ministerium der ersten siebenjährigen Kammer modifizirt worden ist. Ein privilegirtes Kind der Villele’schen Epoche trägt er deren Stempel auf der Stirn: keine Regung der Seele stört den himmlischen Frieden seiner phlegmatischen Physiognomie; nie leuchtet ein Gefühl oder ein Gedanke aus seinen matten Augen. Ob er gleich nicht viel Witz und noch weniger Wissen besitzt, so fehlt es ihm doch nicht an einem gewissen praktischen Sinn, der aber weniger ein Produkt seiner Urtheilskraft als seiner unermüdlichen Thätigkeit ist; er geht just nicht darauf los, aber er ist gewiß, Jemand bei einem falschen Spiel zu ertappen. Der unbedingte Indifferentismus spricht sich in seinem ganzen Benehmen aus. Worte, wie Menschenliebe, Vaterlandsliebe, Wohlthätigkeit, Dankbarkeit sind ihm hohle Nüße, die seinen Appetit nicht befriedigen; geistige Genüsse, die freilich eine wissenschaftliche und ästhetische Bildung voraussetzen, geben seinem Geist keine neue Idee. Leben will er, d. h. sich bereichern, oder nach dem ministeriellen Dialekt (argot ministériel du jour) sich stellen. Natürlich ist das Herz, das vor dem Sarg eines Foy oder Manuel kalt bleibt, desto gerührter, wenn eine Administrativ-Uniform darauf liegt: „Wie Schade, daß der Edle todt ist – er war Staatsrath!“

Die empörendsten Gewaltstreiche der Willkürherrschaft haben den Humor des Hrn. Visatout nie aus dem Gleichgewicht gebracht, sein Herz gleicht einem Bienenstock, worin für die Despoten aller Zeiten und aller Länder Platz ist; er findet jede Regierung gut, denn was gehen ihn die Klagen der Regierten an: die Völker, meint er, sollten sich eben mit der Portion Freiheit begnügen, die man ihnen zumißt, und wenn sie auch nur darin bestünde, daß sie die Brühe selbst bestimmen dürfen, in welcher sie sich verspeisen lassen wollen.

Nichts desto weniger ist Hr. Visatout ein sehr umgänglicher Mann, gegen Jedermann artig und zuvorkommend, ein ängstlicher Beobachter des Salons-Ceremoniells: seine Unterhaltung zwar ist die ordinärste von der Welt, aber, da er sich sehr zum Optimismus hinneigt, an Niemand krittelt und durch seinen Witz Niemand wehe thut, so macht er sich äußerst liebenswürdig.

Hr. Visatout, besser berathen als die meisten Menschen, die über die Wahl ihres künftigen Berufes im Ungewissen sind, war kaum aus der Normandie in Paris angekommen, als er erkannte, daß die Büreaukratie, die sich, wie ein Aussatz, über Frankreich verbreitet, sein Element sey. Ein Herr Vetter, der geheimer Referendär bei der Polizei war, nahm es auf sich, ihn dem Chef zu empfehlen, um ihn als Supernumerarius auf seiner Kanzlei unterzubringen. Nachdem er hier alle niedern

  1. Les Jesuites en action sous le ministère Villèle. Par M. Santo Domingo, Auteur des tablettes Romaines. Vidi, scripsi. Paris 1828.
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_703.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)