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Ich kann nicht glauben, daß der kleine Tod,
dem wir doch täglich übern Scheitel schauen,
uns eine Sorge bleibt und eine Not.

Ich kann nicht glauben, daß er ernsthaft droht;

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ich lebe noch, ich habe Zeit zu bauen:

mein Blut ist länger als die Rosen rot.

Mein Sinn ist tiefer als das witzige Spiel
mit unsrer Furcht, darin er sich gefällt.
Ich bin die Welt,

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aus der er irrend fiel.


 Wie er
kreisende Mönche wandern so umher;
man fürchtet sich vor ihrer Wiederkehr,
man weiß nicht: ist es jedesmal derselbe,

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sind’s zwei, sind’s zehn, sind’s tausend oder mehr?

Man kennt nur diese fremde gelbe Hand,
die sich ausstreckt so nackt und nah –
da da:
als kam sie aus dem eigenen Gewand.


Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,

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mit mir verlierst du deinen Sinn.


Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_026.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)