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Jetzt heilt es leise unter uns.

Denn die Vergangenheiten tranken
die vielen Fieber aus dem Kranken,
wir fühlen schon in sanftem Schwanken

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den ruhigen Puls des Hintergrunds.


Wir liegen lindernd auf dem Nichts,
und wir verhüllen alle Risse;
du aber wächst ins Ungewisse
im Schatten deines Angesichts.


Alle, die ihre Hände regen
nicht in der Zeit, der armen Stadt,
alle, die sie an Leises legen,
an eine Stelle, fern den Wegen,

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die kaum noch einen Namen hat, –

sprechen dich aus, du Alltagssegen,
und sagen sanft auf einem Blatt:

Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,

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daß sie nichts schufen, was nicht flehte;

ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.

Die Zeit ist eine vielgestalte.

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Wir hören manchmal von der Zeit

und tun das Ewige und Alte;
wir wissen, daß uns Gott umwallte
groß wie ein Bart und wie ein Kleid.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_030.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)