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Es wird nicht Ruhe in den Häusern, sei's
daß einer stirbt und sie ihn weitertragen,
sei es, daß wer auf heimliches Geheiß
den Pilgerstock nimmt und den Pilgerkragen,

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um in der Fremde nach dem Weg zu fragen,

auf welchem er dich warten weiß.

Die Straßen werden derer niemals leer,
die zu dir wollen wie zu jener Rose,
die alle tausend Jahre einmal blüht.

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Viel dunkles Volk und beinah Namenlose,

und wenn sie dich erreichen, sind sie müd.

Aber ich habe ihren Zug gesehn;
und glaube seither, daß die Winde wehn
aus ihren Mänteln, welche sich bewegen,

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und stille sind, wenn sie sich niederlegen –;

so groß war in den Ebenen ihr Gehn.


So möcht ich zu dir gehn: von fremden Schwellen
Almosen sammelnd, die mich ungern nähren.
Und wenn der Wege wirrend viele wären,
so würd ich mich den Ältesten gesellen.

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Ich würde mich zu kleinen Greisen stellen,

und wenn sie gingen, schaut ich wie im Traum,
daß ihre Kniee aus der Bärte Wellen
wie Inseln tauchen, ohne Strauch und Baum.

Wir überholten Männer, welche blind

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mit ihren Knaben wie mit Augen schauen,

und Trinkende am Fluß und müde Frauen
und viele Frauen, welche schwanger sind.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_073.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)