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Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh,
sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen,
und ihre Kleider werden welk an ihnen,
und ihre schönen Hände altern früh.

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Die Menge drängt und denkt nicht sie zu schonen,

obwohl sie etwas zögernd sind und schwach, –
nur scheue Hunde, welche nirgends wohnen,
gehn ihnen leise eine Weile nach.

Sie sind gegeben unter hundert Quäler,

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und, angeschrien von jeder Stunde Schlag,

kreisen sie einsam um die Hospitäler
und warten angstvoll auf den Einlaßtag.

Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Grüße
sie in der Kindheit wundersam gestreift, –

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der kleine Tod, wie man ihn dort begreift;

ihr eigener hängt grün und ohne Süße
wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift.


O Herr, gib jedem seinen eignen Tod,
das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.


Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

um ihretwillen heben Mädchen an

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und kommen wie ein Baum aus einer Laute,

und Knaben sehnen sich um sie zum Mann;

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_086.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)