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fällt in die Gassen, die es anders drehen,
ihr Rauschen wird im Hin- und Widergehen

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verwirrt, gereizt und aufgeregt.

Sie kommen auch zu Beeten und Alleen –:


Denn Gärten sind, – von Königen gebaut,
die eine kleine Zeit sich drin vergnügten
mit jungen Frauen, welche Blumen fügten
zu ihres Lachens wunderlichem Laut.

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Sie hielten diese müden Parke wach;

sie flüsterten wie Lüfte in den Büschen,
sie leuchteten in Pelzen und in Plüschen,
und ihrer Morgenkleider Seidenrüschen
erklangen auf dem Kiesweg wie ein Bach.

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Jetzt gehen ihnen alle Gärten nach –

und fügen still und ohne Augenmerk
sich in des fremden Frühlings helle Gammen[1]
und brennen langsam mit des Herbstes Flammen
auf ihrer Äste großem Rost zusammen,

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der kunstvoll wie aus tausend Monogrammen

geschmiedet scheint zu schwarzem Gitterwerk.
Und durch die Gärten blendet der Palast
(wie blasser Himmel mit verwischtem Lichte),
in seiner Säle welke Bilderlast

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versunken wie in innere Gesichte,

fremd jedem Feste, willig zum Verzichte
und schweigsam und geduldig wie ein Gast.


Dann sah ich auch Paläste, welche leben;
sie brüsten sich den schönen Vögeln gleich,

  1. Evtl. altertümliche Form von Gambe/Kniegeige
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_091.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)