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Und sieh: ihr Leib ist wie ein Bräutigam
und fließt im Liegen hin gleich einem Bache
und lebt so schön wie eine schöne Sache,
so leidenschaftlich und so wundersam.

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In seiner Schlankheit sammelt sich das Schwache,

das Bange, das aus vielen Frauen kam;
doch sein Geschlecht ist stark und wie ein Drache
und wartet schlafend in dem Tal der Scham.


Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit.

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Denn selig sind, die niemals sich entfernten

und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende

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und über Reiche, deren Sinn verrinnt,

und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.


Nur nimm sie wieder aus der Städte Schuld,
wo ihnen alles Zorn ist und verworren
und wo sie in den Tagen aus Tumult
verdorren mit verwundeter Geduld.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_098.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)