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Wollust. Die Prinzen des Lebens konnten es nicht fassen. Aber die Prinzessinnen lagen bei den Kutschern, weil es Kutscher waren, und weil es die Prinzen nicht fassen konnten. Was immer der Liebe an Greueln widerstrebt, besiegte sie und suchte es auf, um es zu besiegen. Zucht ist ein Pfand der Unzucht, Hoheit die Bürgschaft des Falls. Warnung weckt Wunsch; Entfernung nähert. Der ausgehungerte Eros, dessen Geschmack sublimiert werden sollte, ist nicht wählerischer geworden, aber kriegerischer. Er wählt, was man ihm vorenthält. „Laßt uns ein Lied der Liebe singen! Die Liebe wird uns noch alle zugrunde richten. O Kupido, Kupido, Kupido!“ So ging eine Griechenwelt unter. Die christliche ließ kein Lied der Liebe singen, erkannte deren antisozialen Charakter und machte aus ihm ein Genußmittel. Die christliche Liebe konvertiert alles, selbst den Glauben. Der getaufte Eros liebt nicht alles, aber er nimmt mit allem vorlieb. Nichts ist ihm unerreichbar. Er sagt, daß er die Nächstenliebe sei, und weidet sich an verwundeten Kriegern. Er rettet gefallene Mädchen und bekehrt ungläubige Männer. Er ist neugierig und klettert über die chinesische Mauer. Er besucht Opiumhöhlen, um dort zu sagen, wie schön es in den Kirchen sei. Er frißt alles und läßt sich sogar die Kultur des Weibes schmecken, die täuschende Zubereitung verdorbener Weibnatur. Denn Bildung, sozialer Stolz und Frauen-

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer, Leipzig 1914, Seite XX. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_09.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)