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Wenn sie das Nest leer finden, mag ihre Verzweiflung mit den Worten von Desdemonas Vater rufen:

O Gott! Wie kam sie fort? O Blutsverrat! —
Väter, hinfort traut euern Töchtern nie
Nach äußerlichem Tun! —— —— —— ——
O schnöder Dieb! Was ward aus meiner Tochter?

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Du hast, verdammter Frevler, sie bezaubert;

Denn alles, was Vernunft hat, will ich fragen,
Wenn nicht ein magisch Band sie hält gefangen,
Ob eine Jungfrau, zart und schön und glücklich,
So abhold der Vermählung, daß sie floh

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Den reichen Jünglings-Adel unsrer Stadt ——

Ob sie, ein allgemein Gespött zu werden,
Häuslichem Glück entfloh an solches Unholds
Pechschwarze Brust, die Grau’n, nicht Lust erregt!
—— —— —— —— Ein Mädchen, schüchtern,

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Von Geist so still und sanft, daß jede Regung

Errötend schwieg —— die sollte, trotz Natur
Und Jugend, Vaterland und Stand, und Allem,
Das lieben, was ihr Grauen schuf zu sehn?

Weil sie den Zaubertrank, den die Sinne selbst bereiten, nicht in ihrer Hausapotheke führen, ist Vätern und Gatten die Erscheinungfremd. Man lügt ihnen die weiße Haut voll, und wenn nicht der Zufall einen Mord ausriefe, würden sie nie erfahren, welches Kolorit der Geschmack ihrer

Empfohlene Zitierweise:
Karl Kraus: Die Chinesische Mauer. Leipzig 1914, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_18.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)