Seite:De Die Chinesische Mauer (Kraus) 24.jpg

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dezimiert ein Volk mehr als das Zweikindersystem. Sie bringt die Pathologie zur Welt und mit ihr jene geborene Homosexualität, die das erbärmliche Widerspiel der erotischen Vielgestalt bedeutet. Der Chinese liebt das Weib, er liebt es im Knaben, und er würde sich nicht das Recht nehmen lassen, die Züge des gesuchten Frauentypus in einem Katzenkopf zu lieben. Aber er sucht nicht den Mann, zu dem die abendländische Perversität tendiert, die keine erotische Bereicherung ist, sondern eine pathologische Folge der Verkrüppelung des Geschlechtslebens durch die Moral. Die Erforscher des männlichen Buhlwesens in China führen die Tatsache an, daß ein junger Schauspieler, der eine anmutige Mandarinin darzustellen hat, „der zierlichste Frauenkopf“ genannt wird, „den man in China überhaupt zu Gesicht bekommen könne“. Die chinesische Päderastie sei der öffentlichen Meinung „eine Sache, die durchaus nichts Absonderliches vorstellt und der sich jeder unbedenklich hingibt. Man verhält sich zu dieser Art Wollust völlig indifferent und die öffentliche Moral regt sich über sie nicht im geringsten auf. Weil die Handlung dem, der sie treibt, gefällt und weil der, mit dem sie getrieben wird, damit zufrieden ist, so findet die chinesische Moral hier alles in Ordnung. Das chinesische Gesetz liebt es nicht sehr, sich mit allzu intimen Angelegenheiten zu befassen. Die Päderastie wird sogar als eine Sache des guten Tons, als ein kostspieliger Luxus und ein vornehmer

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer. Leipzig 1914, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_24.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)