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nutzlos geworden ist, und man bekommt auf diese Weise eine richtige Vorstellung von rudimentären Organen. Aber Nichtgebrauch und Natürliche Züchtung werden auf jedes Geschöpf gewöhnlich erst wirken, wenn es zur Reife gelangt ist und selbstständigen Antheil am Kampfe ums Daseyn nimmt. Sie werden nur wenig über ein Organ in den ersten Lebens-Altern vermögen, weshalb kein Organ in solchen frühen Altern sehr verringert oder verkümmert werden kann. Das Kalb z. B. hat Schneidezähne, welche aber im Oberkiefer das Zahnfleisch nie durchbrechen, von einem frühen Stammvater mit wohl-entwickelten Zähnen geerbt, und es ist anzunehmen, dass diese Zähne im reifen Thiere während vieler aufeinander-folgender Generationen reduzirt worden sind, entweder weil sie nicht gebraucht oder weil Zunge und Gaumen zum Abweiden des Futters ohne ihre Hilfe durch Natürliche Züchtung besser hergerichtet worden sind; wesshalb dann im Kalb diese Zähne unentwickelt geblieben und nach dem Prinzip der Erblichkeit in gleichem Alter von früher Zeit an bis auf den heutigen Tag so vererbt worden sind. Wie ganz unerklärbar sind nach der Annahme, dass jedes organische Wesen und jedes besondre Organ für seinen Zweck besonders erschaffen worden seye, solche Erscheinungen, die, wie diese nie zum Durchbruch gelangenden Schneidezähne des Kalbs oder die verschrumpften Flügel unter den verwachsenen Flügeldecken mancher Käfer, so auffallend das Gepräge der Nutzlosigkeit an sich tragen! Man könnte sagen, die Natur habe Sorge getragen, durch rudimentäre Organe und homologe Gebilde uns ihren Abänderungs-Plan zu verrathen, welchen wir ausserdem nicht verstehen würden.


     Ich habe jetzt die hauptsächlichsten Erscheinungen und Betrachtungen wiederholt, welche mich zur innigsten Überzeugung geführt, dass die Arten während langer Fortpflanzungs-Perioden durch Erhaltung oder Natürliche Züchtung mittelst zahlreich aufeinander-folgender kleiner aber nützlicher Abweichungen von ihrem anfänglichen Typus verändert worden sind. Ich kann nicht glauben, dass eine falsche Theorie die mancherlei grossen Gruppen oben aufgezählter

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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_483.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)