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erinnert: die Bürger sollen aus dem Vergangenen lernen und daraus auf das, was die Zukunft bringen kann, schließen. Das ist der eine Grund für Herrn Heinrich gewesen, sein Buch zu schreiben; er ist weltlich-bürgerlich gedacht. Daneben hat er noch einen anderen Grund: er will die Menschen, die die Geißlerfahrten und den schwarzen Tod mit dem Gefühl erlebt haben, es habe nie so schlimme Zeiten gegeben, durch einen Einblick in die Geschichte vom Gegenteil überzeugen.[1] Das klingt im Inhalt, ja sogar in der Form an Orosius an, der aus dem gleichen Grunde auf Antrieb Augustins seine „Geschichten wider die Heiden“ schrieb. Daher also die vielen „portenta“, die uns in dem Buche auffallen. Und endlich merkt man wohl, daß hier ein Angehöriger des berühmten Magdeburger Schöppenstuhles schreibt, dem das Gefühl für die Bedeutung historisch gesicherten und widerspruchslos überlieferten Rechts besonders tief eingeprägt ist.

Aber alle diese Eigenschaften führen doch nicht weiter als bis zu bedachter Auswahl des gegebenen, meist annalistischen Stoffes. Sie verhindern nicht, daß der Verfasser die große Zunftrevolution des Jahres 1293 zunächst nach einer Quelle erzählt, die streng auf dem Standpunkt der Schöffen steht, und seine eigene, vermittelnde Meinung erst später, fast verstohlen, einfügt. Und die große Erörterung über das geschichtliche und rechtliche Verhältnis von Burggrafschaft und Erzbistum steht nicht vor der Erzählung der Wirren von 1293, die sie uns an dieser Stelle erst erklärt hätte, sondern folgt am Schlusse des 2. Buches nach. Ja, so wenig vermag der Chronist seinen Stoff zu meistern, daß er uns die Erwähnung des Privilegiums Ottos II., auf dem nach seiner eigenen Meinung die besondere Stellung des Schöppenstuhls zwischen Stadt und Erzbischof beruht, bei der Regierungszeit dieses Kaisers vorenthält, weil es eben seine Quellen dort nicht bieten, und er es wohl auch zu keinem bestimmten Jahre einordnen kann.[2]


Von hier aus gesehen wird uns das Problem der Überwindung der mittelalterlichen Geschichtschreibung nicht mehr bloß als ein Problem der Form erscheinen: auch die Auffassung von dem, was den Inhalt der Geschichte bilden soll, muß eine ganz andere werden. Erst wenn die Betrachtung der Taten eines Fürsten zu Erwägungen politischer oder psychologischer Natur, die Darstellung der Stadt- oder Landesgeschichte zum Nachdenken über die natürlichen Gründe ihrer Entwicklung führt, wird der überlieferte Stoff wirklich umgestaltet werden. Dann wird vieles von dem bisherigen Inhalt der Geschichtsbücher

  1. [222] 38) S. die poetische Vorrede, bes. S. 3 V. 26ff. und S. 4 V. 14 ff.
  2. [222] 39) S. die Einleitung des Herausgebers. Ich bemerke noch, daß die Darstellung des Zunftaufruhrs, die nach Janicke S. XL aus einer älteren Quelle abgeschrieben ist, einen anderen Standpunkt zeigt, als den des Verfassers. Seine eigene Meinung erfahren wir erst S. 178, Z. 7 ff. (von Janicke l. c. doch wohl mit Unrecht auch noch zur alten Quelle gerechnet).