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Damit beginnt die Suche nach neuen Quellen. Schon Luder und Matthias von Kemnat plündern nach dem Vorbild der Italiener nahegelegene Klosterbibliotheken. Die Sallusthandschriften, die Matthias aus dem alten Lorsch entführte, genießen heute noch eine Berühmtheit in der Textgeschichte dieses Autors.[1] Bevor Meisterlin sich an die zweite Bearbeitung seiner Nürnberger Chronik wagt, macht er eine Studienreise durch fränkische und bayrische Klöster, Fabri tut dasselbe, als er seine Beschreibung Deutschlands in Angriff nimmt. Wimpfeling und Brant planen eine Sammlung elsässischer Chroniken; in die letzten Lebensjahre des Trithemius fällt sein Auftrag an Paul Lang, die deutschen Klöster nach Quellen für deutsche Geschichte zu durchforschen.[2]

Der Stoff der bisherigen historischen Überlieferung also wird allgemein als unzureichend empfunden. Und ebenso wird ein anderer Maßstab der Kritik an das Nachrichtenmaterial gelegt. Wiederum enthält eine Äußerung Enea Silvios den präzisesten Ausdruck der neuen Forderungen: „Man glaubt“, sagt er in seinem berühmten Briefe an Johann von Aich über das Elend der Hofleute,[3] „mehr dem Guido von Columna, der den trojanischen Krieg mehr dichterisch als historisch beschrieben hat, oder dem Marsilius von Padua, der Übertragungen des Reichs ansetzt, die niemals stattgefunden haben, oder dem Mönche Vinzenz, als dem Livius, Sallust, Justin, Curtius, Plutarch und Sueton, so trefflichen Schriftstellern.“ – Die Bemerkung gegen den Marsilius haben die ersten Leser wohl wenig verstanden, und auch Vinzenz von Beauvais blieb beliebt, er gehört zu den ersten und dann häufig wiederholten Drucken. Aber wir haben doch schon von Meisterlin in ähnlichem Zusammenhang eine Äußerung, daß die Leute lieber den Johann von Mandevilla lesen und das Buch vom Herzog Ernst, als den Plato,[4] und von Trithemius eine solche über das Buch von der Meerfahrt Herzog Heinrichs des Löwen.[5]

Es ist eine neue Auffassung von der geschichtlichen Wahrheit, die uns hier entgegentritt, ein Kampf, der an jenen erinnert, den die Werke der ritterlichen Geschichtschreibung gegen die Poesie der Spielleute führten. Jetzt richtet er sich hauptsächlich gegen die „Abenteuerliteratur“, die „aus Kurzweil“ fabuliert. Nicht lange und Bernhard Schöferlin sucht mit einer Übersetzung des Livius, der Elsässer Matthias Ringmann mit einer Übersetzung des Cäsar dieser Literatur direkte Konkurrenz zu machen.[6]

Es ist klar, daß Schriftsteller, die so an ihre Arbeit gehen, auch ganz anders als Persönlichkeiten hervortreten, wie die große


  1. [237] 127) Über die eine Zeitlang sogar als Corvini gehenden Hss. s. Wirz, Die Codices palatini des Sallustius im Hermes XXXIII, 109, bes. 1161.
  2. [237] 128) Für Meisterlin meine Arbeit 9, 166, für Fabri seine Äußerung Evag. III, 468: Sed dum in labore essem, intellexi in quibusdam locis haberi descriptiones et chronica et annalia de praefatis, idcirco manum retraxi a coeptis, quousque videro praefatas chronicas ... Für Lang die im Vorwort der Opera Trithemii ed. Freher aus dem Chronicon Citicense ausgehobene Stelle.
  3. [237] 129) Ep. 156 der Basler Ausgabe.
  4. [237] 130) Meisterlin S. 62.
  5. [237] 131) Annales Hirsaugienses I, 399, 463.
  6. [238] 132) S. Vorreden von Schöferlin und Ringman. Der Livius erschien zuerst 1505, der Cäsar zu Straßburg 1507. Vgl. Schmidt, Hist. littéraire II, 106 und zum Livius Bauch im AHessG. N. F. V, 15.