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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

nennen möchte,) zu halten habe. Sie ist ein würdiges Gegenstück zu derjenigen Schönheit, die am Putztisch aus Karmin und Bleyweiß, falschen Locken, Fausses Gorges, und Wallfischrippen hervorgeht, und verhält sich ohngefähr eben so zu der wahren Anmuth, wie die Toiletten-Schönheit sich zu der architektonischen verhält [1]. Auf einen ungeübten


  1. Ich bin eben so weit entfernt, bey dieser Zusammenstellung dem Tanzmeister sein Verdienst um die wahre Grazie, als dem Schauspieler seinen Anspruch darauf abzustreiten. Der Tanzmeister kommt der wahren Anmuth unstreitig zu Hülfe, indem er dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschaft, und die Hindernisse hinwegräumt, welche die Masse und Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegen setzen. Er kann dieß nicht anders als nach Regeln verrichten, welche den Körper in einer heilsamen Zucht erhalten, und, so lange die Trägheit widerstrebt, steif, d. i. zwingend seyn und auch so aussehen dürfen. Entläßt er aber den Lehrling aus seiner Schule, so muß die Regel bey diesem ihren Dienst schon geleistet haben, daß sie ihn nicht in die Welt zu begleiten braucht: kurz das Werk der Regel muß in Natur übergehen.
    [152] Die Geringschätzung mit der ich von der theatralischen Grazie rede, gilt nur der nachgeahmten, und diese, nehme ich keinen Anstand, auf der Schaubühne wie im Leben zu verwerfen. Ich bekenne, daß mir der Schauspieler nicht gefällt, der seine Grazie, gesetzt daß ihm die Nachahmung auch noch so sehr gelungen sey, an der Toilette studirt hat. Die Foderungen die wir an den Schauspieler machen, sind: 1) Wahrheit der Darstellung und 2) Schönheit der Darstellung. Nun behaupte ich, daß der Schauspieler, was die Wahrheit der Darstellung betrift, alles durch Kunst und nichts durch Natur hervorbringen müsse, weil er sonst gar nicht Künstler ist; und ich werde ihn bewundern, wenn ich höre oder sehe, daß er, der einen wüthenden Guelfo meisterhaft spielte ein Mensch von sanftem Karakter ist; auf der andern Seite hingegen behaupte ich, daß er, was die Schönheit der Darstellung betrift der Kunst gar nichts zu danken haben dürfe, und daß hier alles an ihm freiwilliges Werk der Natur seyn müsse. Wenn es mir bey der Wahrheit seines Spiels beyfällt, daß ihm dieser [153] Karakter nicht natürlich ist, so werde ich ihn nur um so höher schätzen; wenn es mir bey der Schönheit seines Spiels beyfällt, daß ihm diese anmuthigen Bewegungen nicht natürlich sind, so werde ich mich nicht enthalten können, über den Menschen zu zürnen, der hier den Künstler zu Hülfe nehmen mußte. Die Ursache ist, weil das Wesen der Grazie mit ihrer Natürlichkeit verschwindet, und weil die Grazie doch eine Foderung ist, die wir uns an den bloßen Menschen zu machen berechtigt glauben. Was werde ich aber nun dem mimischen Künstler antworten, der gern wissen möchte, wie er, da er sie nicht erlernen darf, zu der Grazie kommen soll? Er soll, ist meine Meinung, zuerst dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung komme, und dann soll er hingehen und (wenn es sonst sein Beruf ist) sie auf der Schaubühne repräsentiren.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_151.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)