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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

aber es lag nicht in dem Plan des epischen Dichters, sich bey dem Gemüthszustand des Laokoon, wie der Bildhauer thun mußte, zu verweilen. Bey dem Virgil ist die ganze Erzählung bloß Nebenwerk, und die Absicht, wozu sie ihm dienen soll, wird hinlänglich durch die bloße Darstellung des Physischen erreicht, ohne daß er nöthig gehabt hätte, uns in die Seele des Leidenden tiefe Blicke thun zu lassen, da er uns nicht sowohl zum Mitleid bewegen als mit Schrecken durchdringen will. Die Pflicht des Dichters war also in dieser Hinsicht bloß negativ, nehmlich die Darstellung der leidenden Natur nicht soweit zu treiben, daß aller Ausdruck der Menschheit oder des moralischen Widerstandes dabey verloren gieng, weil sonst Unwille und Abscheu unausbleiblich erfolgen müßten. Er hielt sich daher lieber an Darstellung der Ursache des Leidens, und fand für gut, sich umständlicher über die Furchtbarkeit der beiden Schlangen und über die Wuth, mit der sie ihr Schlachtopfer anfallen, als über die Empfindungen desselben zu verbreiten. An diesen eilt er nur schnell vorüber, weil ihm daran liegen mußte, die Vorstellung eines göttlichen Strafgerichts und den Eindruck des Schreckens ungeschwächt zu erhalten. Hätte er uns hingegen von Laokoons Person soviel wissen lassen, als der Bildhauer, so

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 388. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_388.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)