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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Vierter und letzter Band, welcher das vierte fünfte und sechste Stück enthält.

Die Einheit des Charakters kann in Einförmigkeit und Leerheit ausarten, wenn sie die leidenschaftlichen Regungen tödtet, anstatt, sie zu beherrschen. Dann ist sie kein Gegenstand der Kunst.

In der Art wie der Vorleser sich den darzustellenden Charakter denkt, giebt es entschiedne Grade der Freyheit.

Am meisten ist diese Freyheit bey dramatischen Produkten eingeschränkt, wo bekannte historische Personen auftreten. Sind es bloß Ideale, so hat der Dichter oft mehr oder weniger Lücken gelassen die der Vorleser, so wie der Schauspieler, durch eigne Phantasie auszufüllen verbunden ist. Indessen gewinnt auch die Lebhaftigkeit der Darstellung bey einem vollendeten Charakter, wenn der Künstler, der gleichsam die Mittelsperson zwischen dem Dichter und einem Theil des Publikums ist, durch glücklich gewählte Nebenzüge, dem Gemählde mehr Individualität zu geben weiß. Und hier öfnet sich ein unermeßliches Feld für Deklamation und Mimik.

Bey nicht dramatischen Produkten wird der Charakter durch den Innhalt bestimmt. Der Vorleser idealisirt sich das gegebene Werk der Beredsamkeit oder Dichtkunst zu der Schöpfung eines einzigen Moments und dann denkt er sich

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Vierter und letzter Band, welcher das vierte fünfte und sechste Stück enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band4_105.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)