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ihre Glossen machen. Auch die freundliche Wirtin schien neugierig, zu wissen, wen sie in ihrem Erkerlein beherberge. Sie setzte die Speisen, die sie ihm bereitet hatte, vor ihn hin, nachdem sie ein schönes Tafeltuch über den runden Tisch ausgebreitet hatte; dann nahm sie selbst an der entgegengesetzten Seite Platz und befragte ihn, wiewohl sehr bescheiden, über das Woher? und Wohin?

Der junge Mann war nicht gesonnen, ihr über den eigentlichen Zweck seiner Reise genaue Auskunft zu geben. Das Gespräch der Gäste an der langen Tafel hatte ihn belehrt, daß es hier nicht minder gefährlich sei, zu gar keiner Partei zu gehören, als sich für irgend eine bestimmt zu erklären, er sagte daher, er komme aus Franken und werde noch weiter hinauf ins Land, in die Gegend von Zollern, reisen, und schnitt somit jede weitere Frage ab; denn die Wirtin war zu bescheiden, als daß sie sich den Ort, wohin er gehe, noch näher hätte bezeichnen lassen. Es schien ihm aber eine gute Gelegenheit, sich nach Marien zu erkundigen, denn er war glücklich, wenn ihm die Wirtin zum goldenen Hirsch auch nur ihren Namen nennen, nur den Saum ihres Kleides beschreiben würde. Er fragte daher nach den Burgen umher und nach den ritterlichen Familien, die in der Nachbarschaft wohnen.

Die Wirtin schwatzte gerne; sie gab ihm in weniger als einer Viertelstunde die Chronik von fünf bis sechs Schlössern aus der Gegend, und bald kam auch Lichtenstein an die Reihe. Der junge Mann holte tiefer Atem bei diesem Namen und schob die Schüssel weit hinweg, um seine Aufmerksamkeit ganz der Erzählerin zu widmen.

„Nun, die Lichtensteiner sind gar nicht arm, im Gegenteil, sie haben schöne Felder und Wälder und keine Rute Landes verpfändet: da ließe sich der Alte lieber seinen langen Bart abscheren, obgleich er gar viel darauf hält und ihn immer streichelt, wenn er mit den Leuten spricht. Er ist ein strenger, ernster Mann; was er einmal haben will, das muß geschehen, und sollte es biegen oder brechen. Er ist auch einer von denen, die es so lange mit dem Herzog hielten; die Bündischen werden es ihm übel entgelten lassen.“

„Wie ist denn seine …, ich meine, Ihr sagtet, er habe eine Tochter, der Lichtenstein?“

[207] „Nein“, antwortete die Wirtin, indem sich ihr sonst so heiteres Gesicht in grämliche Falten zog, „von der habe ich gewiß nicht gesprochen, daß ich es wüßte. Ja, er hat eine Tochter, der gute, alte Mann, und es wäre ihm besser, er führe kinderlos in die Grube, als daß er aus Jammer über sein einziges Kind abfährt.“

Georg traute seinen Ohren nicht; was konnte die Wirtin gerade von Marien so Arges denken, daß sie den Vater glücklich pries, wenn er dieses Kind nicht hätte? „Was ist es denn mit diesem Fräulein“, fragte er, indem er sich vergebens abmühte, recht scherzhaft auszusehen: „Ihr macht mich neugierig, Frau Wirtin; oder ist es ein Geheimnis, das Ihr nicht sagen dürft?“

Die Frau zum goldenen Hirsch schaute aus dem Erker heraus nach allen Seiten, ob niemand lausche; aber die Bürger waren ruhig in ihrem Gespräch begriffen und achteten nicht auf sie, und sonst war niemand in der Nähe, der sie hören konnte. „Ihr seid ein Fremder“, hub sie nach diesen Forschungen an, „Ihr reiset weiter und habt nichts mit dieser Gegend zu schaffen, darum kann ich Euch wohl sagen, was ich nicht jedem vertrauen möchte. Das Fräulein dort oben auf dem Lichtenstein ist ein – ein – ja bei uns Bürgersleuten würde man sagen, sie ist ein schlechtes Ding, eine lose Dirne –“

„Frau Wirtin!“ rief Georg.

„So schreiet doch nicht so, verehrter Herr Gast, die Leute schauen sich ja um. Meinet Ihr denn, ich sage, was ich nicht ganz gewiß weiß? Denkt Euch, alle Nacht Schlag eilf Uhr läßt sie ihren Liebsten in die Burg. Ist das nicht schrecklich genug, für ein sittsames Fräulein?“

„Bedenket, was Ihr sprechet! Ihren Liebsten?“

„Ja leider, nachts um eilf Uhr ihren Liebsten; es ist eine Schande und ein Spott! Es ist ein ziemlich großer Mann, der kommt in einen grauen Mantel gehüllt ans Thor. Sie hat es zu machen gewußt, daß zu dieser Zeit alle Knechte vom Thor entfernt sind, und nur der alte Burgwart, der ihr auch in ihrer Kindheit zu allen losen Streichen half, um den Weg ist; da kommt sie nun allemal, wenn es drüben in Holzelfingen eilf Uhr schlägt, selbst herunter in den Hof, die Nacht mag so kalt sein als sie will,

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 206–207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_126.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)