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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

„O die guten Kinder!“ rief Märchen bewegt aus, „ja, es sei! mit ihnen will ich es noch einmal versuchen.“

„Ja, du gute Tochter“, sprach die Königin, „gehe zu ihnen; aber ich will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand eines Almanach will ich dir geben.“

„Eines Almanach, Mutter? ach! – ich schäme mich, so vor den Leuten zu prangen.“

Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand eines Almanach. Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren eingewoben.

Die Zofen flochten dem schönen Märchen das lange Haar; sie banden ihr goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.

Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber betrachtete sie mit Wohlgefallen und schloß sie in ihre Arme: „Gehe hin“, sprach sie zu der Kleinen; „mein Segen sei mit dir. Und wenn sie dich verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht, daß spätere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder zuwenden.“

Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg herab auf die Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter hauseten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Thor.

„Halt!“ rief eine tiefe, rauhe Stimme; „Wache heraus! Da kommt ein neuer Almanach!“

Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der Faust und hielten sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar schritt auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn; „nur auch den Kopf aufgerichtet, Herr Almanach“, schrie er, „daß man Ihm in den Augen ansiehet, ob Er was Rechtes ist oder nicht.“

[67] Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das dunkle Auge auf.

„Das Märchen!“ riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals, „das Märchen! Haben Wunder gemeint, was da käme! wie kommst du nur in diesen Rock?“

„Die Mutter hat ihn mir angezogen“, antwortete Märchen.

„So? sie will dich bei uns einschwärzen? Nichts da! hebe dich weg, mach’, daß du fortkommst“, riefen die Wächter untereinander und erhoben die scharfen Federn.

„Aber ich will ja nur zu den Kindern“, bat Märchen; „dies könnt ihr mir ja doch erlauben?“

„Lauft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?“ rief einer der Wächter; „sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor.“

„Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß“, sprach ein anderer.

„Nun ja“, riefen sie, „sag’ an, was du weißt, aber beeile dich, denn wir haben nicht viele Zeit für dich.“

Märchen streckte die Hand aus und beschrieb mit dem Zeigfinger viele Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen; Karawanen mit schönen Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand der Wüste; Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren; stille Wälder und volkreiche Plätze und Straßen; Schlachten und friedliche Nomaden, sie alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.

Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen ließ, nicht bemerkt, wie die Wächter des Thores nach und nach eingeschlafen waren. Eben wollte sie neue Zeichen beschreiben, als ein freundlicher Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff: „Siehe her, gutes Märchen“, sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, „für diese sind deine bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Thor, sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich und unbemerkt deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern führen; in meinem Hause geb’ ich dir ein stilles, freundliches Plätzchen; dort kannst

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 66–67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_035.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)