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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Zelt; mit dem ersten Frührot aber brachen sie auf, und Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl beritten und bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen in die kleine Stadt, wo Mustafa die gerettete Fatme zurückgelassen hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu dem kleinen Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer Entfernung sehen konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht abzuwarten. Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort ließen sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück, und schickten sich an, hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen Fatme noch einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in den innern Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke zwei Türme, in der sechsten Thüre, vom Turme rechts gerechnet, befinden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven. Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustafa, Orbasan und zwei andere Männer hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar bis an den Gürtel ins Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie rüstig vorwärts. Nach einer halben Stunde kamen sie an den Brunnen selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an. Die Mauer war dick und fest; aber den vereinten Kräften der vier Männer konnte sie nicht lange widerstehen; bald hatten sie eine Öffnung eingebrochen, groß genug, um bequem durchschlüpfen zu können. Orbasan schlüpfte zuerst durch und half den andern nach, und als sie alle im Hof waren, betrachteten sie die Seite des Schlosses, die vor ihnen lag, um die beschriebene Thüre zu erforschen. Aber sie waren nicht einig, welche es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum linken zählten, fanden sie eine Thüre, die zugemauert war, und wußten nun nicht, ob Fatme diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber Orbasan besann sich nicht lange: „Mein gutes Schwert wird mir jede Thüre öffnen“, rief er aus, ging auf die sechste Thüre zu, und die andern folgten ihm. Sie öffneten die Thüre und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich zurückziehen, weil sie sahen, daß [129] sie die rechte Thüre verfehlt hatten, als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter Stimme um Hülfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber ehe noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte Orbasan auf den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich an die Sklaven, wovon schon einige von Mustafa und den zwei andern halb gebunden waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte den Sklaven den Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und Mirzah wären, und sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien. Mustafa stürzte in das Gemach und fand Fatme und Zoraiden, die der Lärm erweckt hatte. Schnell rafften diese ihren Schmuck und ihre Kleider zusammen und folgten Mustafa; die beiden Räuber schlugen indes Orbasan vor, zu plündern, was man fände; doch dieser verbot es ihnen und sprach: „Man solle nicht von Orbasan sagen können, daß er nachts in die Häuser steige, um Gold zu stehlen!“ Mustafa und die Geretteten schlüpften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als jene in die Wasserleitung hinabgestiegen waren, nahm Orbasan und einer der Räuber den Kleinen und führten ihn hinaus in den Hof; dort banden sie ihm eine seidene Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals und hingen ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf. Nachdem sie so den Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst auch hinab in die Wasserleitung und folgten Mustafa. Mit Thränen dankten die beiden ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie Thiuli-Kos nach allen Seiten verfolgen ließ. Mit tiefer Rührung trennte sich am andern Tage Mustafa und seine Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite Sklavin, ging verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat einzuschiffen.

Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die Heimat. Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des Wiedersehens; den andern Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 128–129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_066.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)