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9.

Ein drückender, trüber Nebel lag über Stuttgart und gab den Bergen umher und der Stadt ein trauriges, ödes Ansehen; gerade so lag auch ein trüber, ängstlicher Ernst auf den Gesichtern, die man auf den Straßen sah, und es war, als hätte ein Unglück, das man nicht vergessen konnte, oder ein neuer Schlag, den man fürchtete, alle Herzen wie die sonst so lieblichen Berge umflort und in Trauer gehüllt. Am Abend eines solchen Tages schlich der junge Lanbek durch die feuchten Gänge des Gartens. Sein Gesicht war bleich, sein Auge trübe, sein Mund heftig zusammengepreßt, seine hohe Gestalt trug er nicht mehr so leicht und aufgerichtet wie zuvor, und es schien, als sei er in den letzten acht Tagen um ebenso viele Jahre älter geworden. Was er vorausgesehen hatte, war eingetroffen; niemand, der die Lanbeks auch nur dem Rufe nach kannte, konnte die schnelle Erhebung des jungen Mannes begreifen oder rechtfertigen. Die Günstlinge und Kreaturen des mächtigen Juden traten ihm mit jener lästigen Traulichkeit, mit jener rohen Freude entgegen, wie etwa Diebe und falsche Spieler einem neuen Genossen ihrer Schlechtigkeit beweisen, und des jungen Lanbeks Gefühl bei solchen neuen, werten Bekanntschaften läßt sich am besten mit den unangenehmen und wehmütigen Empfindungen eines Mannes vergleichen, den das Unglück in einen Kerker mit dem Auswurf der Menschen warf, und der sich von Räubern und gemeinen Weibern als ihresgleichen begrüßen lassen muß. Die gnädigen Blicke, die ihm der Minister hin und wieder öffentlich, beinahe zum Hohn, zuwarf, bezeichneten ihn als einen neuen Günstling. Jetzt erst sah er, wie viele gute Menschen ihm sonst wohlgewollt hatten, denn so manches bekannte Gesicht, das sonst dem Sohne des alten Lanbek einen guten Tag gelächelt hatte, erschien jetzt finster, und selbst wackere Bürgersleute und jene biederen, ehrlichen Weingärtner, die sich bei ihm und dem Alten so oft Rats erholt hatten, wandten jetzt die Augen ab und gingen vorüber, ohne den Hut zu rücken.

Der Gedanke an Lea erhöhte noch sein Unglück. Er wußte [423] genau, wie unglücklich sein alter Vater, er selbst und die Seinigen werden könnten, wenn der verzweifelte Schlag, den sie führen wollten, mißlang, und doch, so groß der Frevel war, den jener fürchterliche Mann auf sich geladen hatte, dennoch graute ihm, wenn er sich die Folgen überlegte, die sein Sturz nach sich ziehen würde. Was sollte aus der armen Lea werden, wenn der Bruder vielleicht monatelang gefangen saß? Konnte der Herzog, ein so strenger Herr, Vergehungen und Pläne wie die des Juden vergeben, selbst wenn er ihm durch jenes Edikt Straflosigkeit zugesichert hatte?

Und dann durchzuckte ihn wieder die Erinnerung an jene schreckliche Drohung, die Süß gegen ihn ausgestoßen, als er das Verhältnis des jungen Mannes zu seiner Schwester berührte. Alle Angst vor seinem alten Vater, vor der Schande, die eine solche Verbindung, wenn sie auch nur besprochen würde, brächte, kam über ihn. Es gab Augenblicke, wo er seine Thorheit, mit der schönen Jüdin auch nur ein Wort gewechselt zu haben, verwünschte, wo er entschlossen war, den Garten zu verlassen, sie nie wiederzusehen, seinem Vater alles zu sagen, ehe es zu spät wäre; aber wenn er sich dann das schöne Oval ihres Hauptes, die reinen, unschuldigen und doch so interessanten Züge und jenes Auge dachte, das so gerne und mit so unnennbarem Ausdruck auf seinen eigenen Zügen ruhte, da war es, ich weiß nicht ob Eitelkeit, Thorheit, Liebe oder gar der Einfluß jenes wunderbaren Zaubers, der sich aus Rahels Tagen unter den Töchtern Israels erhalten haben soll – es zog ihn ein unwiderstehliches Etwas nach jener Seite hin, wo ihn, seit die Dämmerung des ersten Märzabends finsterer geworden war, die schöne Lea erwartete.

„Endlich, endlich“, sagte Lea mit Thränen, indem sie ihre weiße Hand durch die Staketen bot, welche die beiden Gärten trennten. „Wenn nicht der Frühling indes hätte kommen müssen, wahrhaftig, ich hätte gedacht, es sei schon ein Vierteljahr vorüber. Ich bin recht ungehalten; wozu denn auch in den Garten gehen bei dieser schlimmen Jahreszeit, wenn Ihr frei und offen durch die Hausthüre kommen dürft? Wisset nur, Herr Nachbar, ich bin sehr unzufrieden.“

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 422–423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_214.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)