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Franken und Schwaben selten ein Thal von der Länge einiger Stunden, in welches nicht eine Burg oder zum mindesten „ein gebrochener Turm und ein halbes Thor“ herabschauten. Die natürliche Beschaffenheit des Landes, die vielen Berge und kleinen Flüsse, überdies die eigentümliche Verfassung des zahlreichen Landadels begünstigten oder nötigten in früherer Zeit zu diesen befestigten Wohnungen. Aber der Norden unseres Vaterlandes trägt weniger Spuren dieser alten Zeit; die weiten Ebenen boten keine so natürliche Befestigung wie die Felsen und Gebirgsausläufer des Süden, und hatte auch hier und dort eine solche Feste im platten Land gestanden, so war sie nur desto schneller dem Verfall und der Zerstörung preisgegeben. Die Nachbarn teilten sich brüderlich in die teuren Steine, und ihr Gedächtnis verwehte der Wind, der über die Ebene hinstrich. Darum war es dem jungen Mann aus der Mark ein so überraschender Anblick, sich in solcher Nähe einer dieser altertümlichen Burgen gegenüber zu sehen, um so überraschender, da er durch diese düsteren, tiefen Thore als Gast einziehen, in jenem altertümlichen Gemäuer wohnen sollte. Doch bald erfüllte kein anderer Gedanke mehr als der malerische Anblick, der sich ihm darbot, seine Seele. Der alte schwärzlich graue Wartturm war auf der Mittagsseite von oben bis in den Graben hinab mit einem Mantel von Epheu umhängt. Aus den Ritzen der Mauer sproßten Zweige und grüne Ranken, und um das Thor zog sich ein breites Rebengeländer, dessen zarte Blätter und Fasern sich mit sanfter Gewalt um die rostigen Angeln und Ketten der Zugbrücke geschlungen hatten. Zur rechten Seite des Schlosses hinderte der dunkle Wald die Aussicht, aber links, an den hohen Mauern vorüber, tauchte das Auge hinab in die Tiefe des schönen, fruchtbaren Neckarthals, schweifte hinauf, den Fluß entlang, zu Dörfern und Weilern und weit über die Weinberge hin nach fernen, blauen Gebirgen.

„Das ist unser Thierberg“, sagte das Fräulein; „es scheint, die Gegend habe einigen Reiz für Sie, Vetter, und ich möchte Ihnen wahrlich raten, recht oft aus dem Fenster zu sehen, um vor unserer Einsamkeit und diesem häßlichen alten Gemäuer nicht zu erschrecken!“

[469] „Ein häßliches Gemäuer nennen Sie diese alte Burg?“ rief der Gast. „Kann man etwas Romantischeres sehen als diese Türme, mit Epheu bewachsen, diesen Thorweg mit den alten Wappen, diese Zugbrücke, diese Wälle und Graben? Glaubt man nicht das Schloß von Bradwardine[1] oder irgend ein anderes aus Scottischen Romanen zu sehen? Erwartet man nicht, ein Sickingen, ein Götz werde uns jetzt eben aus dem Thor entgegentreten –“

„Für diesmal höchstens ein Thierberg“, erwiderte das Fräulein lachend, „und auch von diesen spukt nur noch einer in den fatalen Mauern. Dergleichen Türme und Zinnen liebe ich ungemein in einem Roman oder in Kupfer gestochen, aber zwischen diesen Mauern zu wohnen, so einsam, und winters, wenn der Wind um diese Türme heult und das Auge nichts Grünes mehr sieht als jenen Eppich dort am Turm – Vetter! mich friert schon jetzt wieder, wenn ich nur daran denke. Doch kommt, Herr Ritter, das Burgfräulein will Euch selbst einführen.“

Der düstere, schattenreiche Hof, in welchen sie traten, kühlte etwas die warme Begeisterung des Gastes. Er sah sich flüchtig um, als sie durchhin gingen, und bemerkte, daß der Platz für ein Turnier denn doch nicht groß genug gewesen sein müsse, erschrak vor einem halb zerstörten Turm, dessen Rudera[2] drohend über die Mauer hereinhingen, erstaunte über den scharfen Zahn der Zeit, der in die dicke Mauer mächtige Risse genagt und dem Auge eine freie Aussicht in das Thal hinab geöffnet hatte, und gab in seinem Herzen schon auf den ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe, wo ein heftiger Zugwind durch schlecht verwahrte Fenster blies, der Bemerkung seiner Kousine über die Wohnlichkeit des Hauses vollkommen Beifall. Sechs bis acht Hunde begrüßten in einer großen, mit Backsteinen gepflasterten Halle das Fräulein mit freundlichem Klaffen und Wedeln, und ein gefesselter Raubvogel, der in einer Ecke auf der Stange saß, stieß ein unangenehmes Geschrei aus und schwenkte die Flügel. „Das ist nun unsere Antichambre, unser Hofgesinde“, sagte Anna, indem sie


  1. Vgl. Scotts „Waverley“.
  2. Latein., d. h. Trümmer, eingestürztes Gemäuer.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 468–469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_237.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)