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zeigte ihm sein Opernglas! Diese Gruppen hatte der Zufall geordnet, und doch schienen sie ihm reizender, als was die Kunst je erfunden. „Siehe“, sagte er zu Anna, die, den schönen Kopf auf den Arm gestützt, ihm gegenüber saß und zuweilen einen ernsten Blick über das Thal hingleiten ließ, „siehe, dort gegenüber jenen Alten mit den silbergrauen Haaren; wie viele solche Herbste mag er schon gesehen haben! Wahrlich, ich könnte an der Gruppe um ihn her seine Lebensgeschichte studieren. Der blonde Knabe, der ihm eben die große Traube brachte, ist wohl sein Enkel; den jungen Burschen, der mit der Peitsche die Mädchen neckt und durch seine Scherze von der Arbeit abhält, indem er sie anzutreiben scheint, halte ich für seinen jüngern Sohn; siehe, jenes Mädchen hat seinen Schlag derb erwidert, sie ist wohl das Liebchen des muntern Burschen, denn sie lachen alle und verspotten ihn. Dieser gebräunte, breite Mann von vierzig, der soeben den ungeheuern mit Trauben gefüllten Korb auf seine Schultern hob, ist wohl der ältere Sohn und des blonden Knaben Vater. So hast du die vier Altersstufen, die sie wohl alle ohne viele Änderung durchlaufen mögen.“

„Gewiß, ohne viele Änderung und ohne viel Vergnügen“, bemerkte der alte Herr von Thierberg, der gleichgültig hinabblickte, „das ewige Einerlei seit vielen hundert Jahren. Der Kleine dort wird jetzt bald in die Schule getrieben und von seinem Schulmeister täglich geprügelt, gerade wie vor Zeiten sein Großvater. Der junge Bursche wird bald Soldat oder auf ein paar Jahre Knecht in der Stadt. Kömmt er dann nach Hause, und der Vater ist tot, so bekommt er sein kleines Stückchen Erbe und glaubt heiraten zu müssen; und hat er vier Kinder, so werden sie, wenn auch er einst stirbt, das armselige Erbe unter sich teilen und gerade viermal ärmer sein als er. So treibt es sich herauf und herab; zu dem Pulver, das sie heute verschießen, haben sie ein ganzes Jahr gespart, um doch auch einen Tag zu haben, an welchem sie sich betäuben können; und das nennen sie lustig sein! Das nennen die Städter ein Fest, ein malerisches Volksvergnügen!“

„Nein! Sie sehen es zu düster an, Oheim!“ entgegnete der Gast. „Mir scheint, ich gestehe es, eine wundervolle Poesie in diesem Treiben zu liegen. Diese Menschen sind so behende, so [525] lebendig, so regsam. Stellen Sie einmal meine Märker hieher, wie unbeholfen und ungeschickt sie sich benehmen würden! Ich schäme mich heute noch der Unerfahrenheit, die ich letzthin zeigte; ich nahm in einem Ihrer Weinberge einem hübschen Mädchen das gebogene Messer ab und versprach, sie zu unterstützen; als ich die erste Traube abgeschnitten hatte und sie in das Körbchen legte, betrachtete das Mädchen nur den Stiel der Traube und sagte lächelnd: ‚Er hat wohl noch nicht oft Trauben geschnitten‘; und siehe, ich hatte, statt schief zu schneiden, gerade geschnitten. Nein! mir scheint diese Weinlese ein fortdauernder Festtag der Natur, eine liebliche, verkörperte Poesie.“

„Poesie?“ erwiderte Anna, indem sie einen trüben, wehmütigen Blick auf die Berge gegenüber warf, „eine Poesie, die mir das Herz durchschneidet. Mir erscheint dieses fröhliche Treiben wie ein Bild des Lebens. Unter langem Jammer und Ungemach ein Tag der Freude, der durch seine hellen freundlichen Strahlen das öde Dunkel umher nur noch deutlicher zeigt, aber nicht aufhellt! O, kenntest du erst das Leben dieser Armen näher! Wenn du sie beim ersten Erwachen des Frühlings sehen könntest! Jeder Winter verwüstet ihre steilen Gärten; der Schnee löst sie auf und reißt ihre beste, fruchtbarste Erde mit sich hinab. Aber rastlos zieht jung und alt heraus. Die Erde, die ihnen das Wasser nahm, tragen sie wieder hinauf, und legen sie sorglich um ihre Reben her. Vom frühesten Morgen, in der Glut des Mittags, bis am späten Abend steigen sie, schwer beladen, die steilen, engen Treppen hinan. Welche Freude, wenn dann der Weinstock schön steht und nach den Blüten treibt; aber wie bitter ist zugleich ihre Sorge, denn der kleinste Frost kann ihre zarte Pflanze vernichten. Und fällt nun der böse Tau oder eine kalte Nacht, wie schauerlich ist dann ihr Geschäft anzusehen. Alle, selbst die kleinsten Kinder, strömen noch vor Tag in den Weinberg. Dort legen sie alte Stücke von Kleidern und Tüchern neben die Rebstöcke und brennen sie an, daß der qualmende Rauch die zarte Pflanze schützen möchte. Wie arme Seelen, ins Fegfeuer verbannt, schleichen sie um die kleinen, zuckenden Feuer und durch die Schleier, die der Rauch um sie zieht. Die Kleinen rennen umher, sie können noch nicht

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 524–525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_265.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)