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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

[329]Das ist ein sonderbarer Vorfall“, sagte der Kommerzienrat Bolnau zu einem Bekannten, den er auf der Breiten Straße in B. traf; „gesteht selbst, wir leben in einer argen Zeit.“

„Ihr meint die Geschichte im Norden?“ entgegnete der Bekannte; „habt Ihr Handelsnachrichten, Kommerzienrat? Hat Euch der Minister der Auswärtigen aus alter Freundschaft etwas Näheres gesagt.“

„Ach, geht mir mit Politik und Staatspapieren; meinetwegen mag geschehen, was da will. Nein, ich meine die Geschichte mit der Bianetti.“

„Mit der Sängerin? Wie? ist sie noch einmal engagiert? Man sagte ja, der Kapellmeister habe sich mit ihr überworfen –“

„Aber um Gottes willen“, rief der Kommerzienrat und blieb staunend stehen; „in welchen Spelunken treibet Ihr Euch umher, daß Ihr nicht wisset, was sich in der Stadt zuträgt? So wisset Ihr nicht, was der Bianetti arrivierte?“

„Kein Wort, auf Ehre; was ist es denn mit ihr?“

„Nun, es ist weiter nichts mit ihr, als daß sie heute nacht totgestochen worden ist.“

Der Kommerzienrat galt unter seinen Bekannten für einen Spaßvogel, der, wenn er morgens von eilf bis mittag seine Promenaden in der Breiten Straße machte, die Leute gerne aufhielt und ihnen irgend etwas aus dem Stegreife aufband. Der Bekannte war daher nicht sehr gerührt von dieser Schreckensnachricht, sondern antwortete: „Weiter wisset Ihr also heute nichts, Bolnau? Ihr müßt doch nachgerade mit Eurem Witz zu Rande sein, weil Ihr die Farben so stark auftraget. Wenn Ihr mich übrigens ein andermal wieder stellet in der Breiten Straße, so besinnt Euch auf etwas Vernünftigeres, sonst bin ich genötigt, einen Umweg zu machen, wenn ich von der Kanzlei nach Hause gehe.“

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 328–329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_165.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)