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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

„Unmöglich!“ entgegnete das Mädchen; „wir fanden es heute nacht am Boden; ins Haus gehört es nicht, und sonst war noch niemand da als Sie.“

Der Doktor begegnete den Blicken der Sängerin, die erwartungsvoll auf ihm ruhten. „Könnte nicht dieses Tuch jemand anders enfallen sein?“ fragte er mit einem festen Blick auf sie.

„Zeigen Sie her“, erwiderte sie ängstlich, „daran hatte ich noch nicht gedacht.“ Sie untersuchte das Tuch und fand in der Ecke einen verschlungenen Namenszug, sie erbleichte, sie fing an zu zittern.

„Es scheint, Sie kennen dieses Tuch und die Person, die es verloren hat“, fragte Lange weiter; „es könnte zu etwas führen, darf ich es nicht mit mir nehmen? darf ich Gebrauch davon machen?“

Giuseppa schien mit sich zu kämpfen; bald reichte sie ihm das Tuch, bald zog sie es ängstlich und krampfhaft zurück. „Es sei“, sagte sie endlich; „und sollte der Schreckliche noch einmal kommen und mein wundes Herz diesmal besser treffen; ich wage es; nehmen Sie, Doktor. Ich will Ihnen morgen Erläuterungen zu diesem Tuche geben.“


Man kann sich denken, wie ausschließlich diese Vorfälle die Seele des Medizinalrat Lange beschäftigten. Seine sehr ausgebreitete Praxis war ihm jetzt ebensosehr zur Last, als sie ihm vorher Freude gemacht hatte, denn verhinderten ihn nicht die vielen Krankenbesuche, die er vorher zu machen hatte, die Sängerin am andern Morgen recht bald zu besuchen und jene Aufschlüsse und Erläuterungen zu vernehmen, denen sein Herz ungeduldig entgegenpochte? Doch zu etwas waren diese Besuche in dreißig bis vierzig Häusern gut, er konnte, wie er zu sagen pflegte, hinhorchen, was man über die Bianetti sage, vielleicht konnte er auch über ihren sonderbaren Liebhaber, den Kapellmeister Boloni, eines oder das andere erfahren.

Über die Sängerin zuckte man die Achseln. Man urteilte um so unfreundlicher über sie, je ärgerlicher man darüber war, daß so lange nichts Offizielles und Sicheres über ihre Geschichte ins Publikum komme. Ihre Neider, und welche ausgezeichnete [347] Sängerin, wenn sie dazu schön und achtzehn alt ist, hat deren nicht genug? ihre Neider gönnten ihr alles und machten hämische Bemerkungen, die Gemäßigten sagten: „So ist es mit solchem Volke; einer Deutschen wäre dies auch nicht passiert.“ Ihre Freunde beklagten sie und fürchteten für ihren Ruf beinahe noch mehr als für ihre Gesundheit. „Das arme Mädchen!“ dachte Lange und beschloß, um so eifriger ihr zu dienen.

Vom Kapellmeister wußte man wenig, weder Schlechtes, noch Gutes. Er war vor etwa drei Vierteljahren nach B. gekommen, hatte sich im Hôtel de Portugal ein Dachstübchen gemietet und lebte sehr eingezogen und mäßig. Er schien sich von Gesangstunden und musikalischen Kompositionen zu nähren. Alle wollten übrigens etwas Überspanntes, Hochfahrendes an ihm bemerkt haben; die, welche ihn näher kennen gelernt hatten, fanden ihn sehr interessant, und schon mancher Musikfreund soll sich ein Kouvert an der Abendtafel im Hôtel de Portugal bestellt haben, nur um seine herrliche Unterhaltung über die Musik zu genießen. Aber auch diese kamen darin überein, daß es mit Boloni nicht ganz richtig sei, denn er vernachlässige, verachte sogar den weiblichen Gesang, während er mit Entzücken von Männerstimmen, besonders von Männerchören spreche. Er hatte übrigens keinen näheren Bekannten, keinen Freund; von seinem Verhältnis zur Sängerin Bianetti schien niemand etwas zu wissen.

Den Kommerzienrat Bolnau fand er noch immer unwohl und im Bette; er schien sehr niedergeschlagen und sprach mit unsicherer, heiserer Stimme allerlei Unsinn über Dinge, die sonst gänzlich außer seinem Gesichtskreise lagen. Er hatte eine Sammlung berühmter Rechtsfälle um sich her, in welcher er eifrig studierte; die Frau Kommerzienrätin behauptete, er habe die ganze Nacht darin gelesen und hie und da schrecklich gewinselt und gejammert. Seine Lektüre betraf besonders die unschuldig Hingerichteten, und er äußerte gegen den Medizinalrat, es liege eigentlich für den Menschenfreund ein großer Trost in der Langsamkeit der deutschen Justiz; denn es lasse sich erwarten, daß, wenn ein Prozeß zehn und mehrere Jahre daure, die Unschuld doch leichter an den Tag komme, als wenn man heute gefangen und morgen gehangen werde.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 346–347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_174.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)