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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

diesen Düften in einem verschlossenen Zimmer zu sein, macht mich krank und traurig, aber im Freien, so aus der Ferne, atme ich ihren Balsam mit Wollust ein, ich unterscheide und errate dann jede einzelne Nuance, ich möchte sagen, jede Schattierung, jeden Ton, jeden Übergang des Geruches.“

„Sie haben recht, jede Musik gewinnt durch Entfernung“, bemerkte Rempen; „aber das Jammervollste ist mir, jemand singen sehen zu müssen. Besonders ängstigt mich die kleine Person, die jetzt eben etwas vorträgt. Sie ist nett, beinahe zierlich gebaut, aber alle Glieder en miniature. Nun stellt man sie immer auf ein Fußbänkchen, damit sie gesehen wird. Hinter ihr steht der Musikdirektor mit der Violine. Von Anfang macht es sich ganz gut. Der Direktor spielt piano und verzieht höchstens den Mund links und rechts nach dem Strich seines Fiedelbogens, nach und nach kömmt er ins Feuer: ‚Forte, piu forte[1]‘, flüstert er und wackelt mit dem Kopf; jetzt fängt auch die Kleine an, sich zu heben; anfänglich wiegt sie sich auf den Zehen und bewegt die Ellbogen, als nähme sie einen kleinen Ansatz zum Fliegen; doch crescendo mit des Musikers Perpendikularbewegungen schreiten ihre Geberden vor, sie weht und rudert mit den Armen, sie hebt und senkt sich, bis sie im höchsten Ton auf den Zehenspitzen aushält und – wie leicht kann da die Fußbank umschlagen!“

Der Referendär lächelte flüchtig. „Beinahe noch verschiedener als beim Lachen geberden sich die Menschen, wenn sie singen“, sagte er. „Haben Sie nie in einer evangelischen Kirche die Mienen der Weiber unter dem Gesang betrachtet? Betrachten Sie ein zartes, schwärmerisches Kind von sechzehn Jahren, das mit rundgewölbten Lippen, Frieden und Andacht in den Zügen, die zarten Wimpern über die feuchten Augen herabgesenkt, ihren Schöpfer lobt. Sie können aus den vielen Hunderten ihre Stimme nicht herausfinden, und doch sind Sie überzeugt, sie müsse weich, leise, melodisch sein. Setzen Sie neben das Kind zwei ältliche Frauen, die eine wohlbeleibt, mit gutgenährten Wangen und Doppelkinn, die Augen gerade vor sich hinstarrend, die andere etwas vergelbt, mit runzlichen, dürren Zügen und spitzigem [401] Kinn, auf die gebogene Nase eine Brille geklemmt – und Sie werden erraten können, daß die Dicke einen hübschen Baßton murmelnd singt, die andere in die höchsten Nasentöne und Triller hinaufsteigt.“

„Sie scheinen genau zu beobachten“, antwortete lachend der Stallmeister. „Es fehlt nur noch, daß Sie die dicke Frau mit dem murmelnden Baßton für die Mutter der Kleinen, die spitzige aber für ihre ledige Tante ausgeben, eine alte Jungfer, die nicht sowohl von unserem Herrgott als von den Nachbarinnen gehört sein will. Was sagen Sie aber zu der sonderbaren Gewohnheit der Primadonna unserer Oper? In den tiefen Tönen ist ihr hübsches Gesicht ernsthaft, beinahe melancholisch, wenn sie aber aufsteigt, klärt es sich auf, und hat sie nur erst die oberen Doppeltgestrichenen hinter sich, so schließt sie die Augen wie zu einem seligen Traum, sie lächelt freundlich und hold, und lächelt, bis sie wieder abwärts geht. Gleichgültig ist ihr dabei, was sie für Worte singt. Sie könnte in den tiefsten Tönen ‚Ich liebe dich, meines Herzens Wonne‘, singen und ungemein ernsthaft dabei aussehen, und könnte ebenso leicht ‚Ich sterbe, Verräter!‘ in den höchsten Rouladen schreien und ganz hold und anmutig dazu lächeln. Wie erklären Sie dies?“

„Es ist nicht schwer zu erklären“, entgegnete Palvi nach einigem Nachsinnen, „die tiefen Töne fallen ihr etwas schwer; sie muß noch drücken, etwa wie man einen großen Bissen hinabwürgt, und unmöglich kann sie das mit heiterem Gesicht; mit den hohen Tönen geht es aber wohl folgendermaßen zu: Als sie noch jung war und die höheren Töne sich erst in ihrer echten Kraft bildeten, mochte sie einen Lehrmeister gehabt haben, der ihr unerbittlich alle Tage die Skala bis oben hinauf vorgeigte. Für einen klaren höchsten Ton bekam sie wohl ein Stück Kuchen, ein Tuch oder sonst dergleichen etwas; je höher sie es nun brachte, desto freudiger strahlte ihr Gesicht vor Vergnügen über ihre eigenen Töne, und so mochte sie sich angewöhnt haben, mit der freundlichsten Miene zu singen: ‚Ich verzweifle‘.“

In diesem Augenblick ertönte eine reine, volle Frauenstimme in so schmelzenden, süßen Tönen, daß die beiden Männer unwillkürlich ihre Rede unterbrachen und lauschten. Eine leichte Röte


  1. Stark, stärker.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 400–401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_201.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)