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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Wesen für wahres Leben, für ein Ideal der Gesellschaft zu nehmen, und nur ein plötzlicher, recht greller Tausch kann von diesem Wahne retten, besonders wenn man das Glück hat, Männer zu finden, die zu vernünftigem Gespräch bereitwillig sind.“

„Ich kann mir’s denken aus früherer Zeit“, entgegnete der Alte mit ironischem Lächeln. „Nun, hat man wieder anständig geschnattert und gezwitschert, Tee getrunken und göttlichem Gesange gelauscht, und als man gar ästhetisch zu werden, vorzulesen anfing, seid Ihr aus Angst davongelaufen?“

„Nein“, antwortete Rempen, „solange gelesen wurde, blieben wir.“

„Wie?“ rief der Magister. „Und Ihr habt es über Euch vermocht, Herr Referendär, allerlei rosenfarbene Poesie anzuhören.“

„Man las ‚Die letzten Ritter von Marienburg‘“, belehrte ihn der Stallmeister.

„Ei der Tausend!“ sagte der Alte mit einem sonderbaren Seitenblick auf Palvi, „konnte man doch solche Speise vertragen, ohne den ästhetischen Gaumen oder Magen zu verderben? Hat sich denn die Welt gedreht, oder waren unsere hiesigen Schöngeister nicht zugezogen?“

„Doch, sie waren dabei“, erwiderte Rempen, „sie wagten es nicht, sich dagegen zu setzen, obgleich der Zorn aus ihren Augen sprühte, denn noch diesen Morgen hatten sie sich bündig und deutlich erklärt.“ Und nun erzählte er den Auftritt im Keller des Italieners mit einer Geläufigkeit, über welche er sich selbst wundern mußte. Mehrmals wurde er von einem schnellen, kurzen Lachen des Alten unterbrochen; als er aber mit dem furchtbaren Bündnisse des literarischen Trias endete, brach der alte Mann in so herzliches Gelächter aus, daß der Wirt zum Entenzapfen mit einem tiefen Gestöhne erwachte und sich im Sessel umwälzte.

„Der Herr Stallmeister erzählen gut“, sprach dann der Magister, indem er Tränen, die das Lachen hervorgelockt hatte, verwischte. „Ich kenne sie, diese Bursche, diesen Chorus von Halbwissern. Sie sind geachteter beim Stadtpublikum und auf dem Landsitze als der wahre Gelehrte, sie sind die Vornehmern [415] unter den Musensöhnen und machen ungebeten die Honneurs auf dem Parnaß, als wären sie Prinzen des Hauses oder zum mindesten Kammerjunker; um so weniger können sie es verschmerzen, wenn ihre Blöße aufgedeckt und ihre Schande ans Licht gestellt wird. Sie fühlen ihr Nichts; sie sehen es einander ab, aber sie wollen es sich nicht merken lassen.“

„Am sonderbarsten und unerklärlichsten scheint mir ihre Wut gegen das, was man jetzt historischen Roman nennt“, bemerkte der Stallmeister. „Ich bin zu wenig im Getriebe der Literatur bewandert, um es mir erklären zu können.“

„Danken Sie Gott“, erwiderte der Alte, „daß Sie ein heiteres, rüstiges Handwerk erlernt haben und von diesem unseligen, peinlichen Treiben nichts wissen. Kommt mir doch diese schöne Literatur jetzt vor wie scharfer Essig. Mit gehöriger Zutat vom Öl des Lebens, Philosophie, ist sie die Würze Eurer Tage; aber kostet sie gesondert, so ist sie scharf, abstoßend; betrachtet sie genau, etwa durch ein tüchtiges Glas, so sehet Ihr das Acidum aufgelöst in eine Welt von kleinen Würmern, die sich wälzen und einander anfallen, über andere wegkriechen.“

„Pfui! Aber ihr Verhältnis zum historischen Roman?“

„Sie gebärden sich“, antwortete Bunker, „als ob sie gegen irgend eine Erscheinung des Zeitgeistes ankämpfen könnten, wie Pygmäen gegen einen Riesen. Als ob nicht schon die ‚Ilias‘ so gut historisch gewesen wäre als irgend ein Roman ‚des Verfassers von Waverley‘[1]. Und ist nicht ‚Don Quixote‘ der erste aller historischen Romane? Doch nehmen Sie nähere Beispiele bei uns. Spricht sich nicht in ‚Wilhelm Meister‘ das Element eines historischen Romans geheimnisvoll aus? Müssen wir nicht den Begebenheiten, in die der Held verwickelt ist, eine gewisse Zeitgeschichte unwillkürlich unterlegen? Müssen wir nicht das Lager des Prinzen als eine notwendige historische Dekoration damaliger Zeit ansehen? Und die ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘[2], sind sie nicht eine historische Novelle? – Wir


  1. D. h. Walter Scott, dessen erster Roman „Waverley“ 1814 anonym erschien und außerordentlichen Erfolg hatte.
  2. Titel eines novellistischen Werkes Goethes aus den Jahren 1794–95, bestehend aus sieben durch eine Rahmenerzählung verbundenen Geschichten, die Hauff als eine „historische“ bezeichnen konnte, weil sie an politische Vorgänge der Zeit anknüpft.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 414–415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_208.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)