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Zerrüttungen der Krankheit gehen meistens sanfte Minuten oder gar helle und heitere Visionen dem Abschiede voraus: die Flügel der Todes rauschen näher und je näher sie kommen, desto sanfter wird ihr Sausen, bis sie uns überschatten und der blasse Schleier auf uns sinkt, der von lebendigen Händen kaum mehr berührt werden sollte. Heiliger Kreis ist um einen Entschlafnen; das sagt sein ruhiges Gesicht: das sagt seine befriegte Todtengebehrde. Auch Gesichtszüge, welche die Leidenschaft lange verzerrt hatte, werden von der sanften Hand des Todes geebnet; so daß in wenigen Minuten mancher Entschlafne schöner ist, als er je in seinem Leben gewesen. Kein Schreckgespenst also ist unser letzte Freund; sondern ein Endiger des Lebens, der schöne Jüngling, der die Fackel auslöscht und dem wogenden Meer Ruhe gebietet. Was darauf folgt, sind Folgen des Todes, die zu ihm selbst nicht gehören. Das Geripp im Grabe ist so wenig der Tod, als mein fühlendes Ich dies Geripp ist; es ist die abgeworfne zerstörte Maske,

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_278.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)