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Obwohl gewöhnlicher Weise keine Grab- und Lobschrift zu bemerken pflegt, wie lange ein Mensch sich selbst überlebt habe: so ist dies leider doch eine der größesten und nicht seltenen Merkwürdigkeiten menschlicher Lebensläufe. Je früher das Spiel unsrer Gaben und Leidenschaften anfängt, je rascher es fortgesetzt, und durch äußere Zufälle auf mancherlei Weise bestürmt wird: desto häufiger wird man Fälle gewahr von jenen frühen Ermattungen der Seele, von Niederlagen der Kämpfer ohne Tod und sichtbare Wunde, vom männlichen, oft schon jugendlichen höchsten Alter. Lange kann ein Mensch wie die Gestalt seines Grabmonuments mit lebendigem Leibe umhergehn; sein Geist ist von ihm gewichen; er ist der Schatte und das Andenken seines vorigen Namens.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Vierte Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1792, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_IV_(Herder)_367.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)