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ein Leben bei der Welt ohne Lösung von der Welt – aus einem bewußten Gegensatz gegen die mönchische Lebensführung hervorgegangen ist und ferner daß die so entstehende „devotio moderna“ mit ihrer Verbindung von praktischer Tätigkeit und mystischer Beschaulichkeit mindestens eine Zurückdränguug der scholastischen Denkprobleme bedeutete. In beiden Richtungen sagen uns die Angriffe der Zeitgenossen auf die neuen Gründungen der Brüder am besten, was hier neu war und als dem Zeitgeist widersprechend empfunden wurde. Sie richten sich auf zwei Punkte: man wollte nicht zugeben, daß eine Genossenschaft ohne Regeln in der vita communis lebe, und ebenso wenig hielt man für erlaubt, daß die Brüder sich gegenseitig beichteten.

Aber damit ist zunächst nichts weiter festgestellt, als daß es im Leben und in der Bildungswelt der Brüder einen Punkt gibt, wo die christliche Antike als normierendes und formendes Element aufgenommen werden konnte. Und vor allem, man sieht nicht, wie sie hier mehr werden könnte als in den andern Fällen einer: „Reformation“ im mittelalterlichen Sinne, die doch immer ein ridurre al segno war, also eine Besinnung auf das altchristliche Lebensideal und ein Versuch seiner Erneuerung. Immerhin könnte es genügen, daß wir feststellen: hier ist ein Lebensgrund geschaffen, der nur aufgewühlt zu werden braucht um etwas Neues, gegen die bisherige Entwicklung Gerichtetes hervorzubringen, und das Mittel der Aufwühlung wäre, wie bei Petrarca, das ästhetische Interesse gewesen. Dann hätte also Sehnsucht nach der christlichen Schönheit die erasmische humanistische Aufklärung aus der devotio moderna hervorbrechen lassen. Und das möchte ich annehmen.

Vielleicht läßt sich diese Annahme noch ein wenig fester stützen. Es gibt auf dem Wege, der von der Frömmigkeit der Devoten zur erasmischen Aufklärung führt, zwei Gestalten, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, Rudolph Agricola und Conrad Mutian.

Der Friese Agricola[1] gehört zu den merkwürdigsten Erscheinungen des deutschen Humanismus. Wollte man ihn geistig der Generation zuteilen, der er zeitlich angehört, so würde man

  1. Für das Biographische H. E. I. M. van der Velden, Rudolphus Agricola. Diss. Leiden 1911; für das Geistesgeschichtliche meine Studie: Loci communes (Lutherjahrbuch 1926).
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_036.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)