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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Daß wir bald nach dem Ausbruch des Unwetters die Station erreichten, half wenig zum Besten von Menschen und Thieren, denn bei diesem plötzlichen Klaffen der Wolkenschleuße genügten ein paar Secunden zu so vollständiger Durchträufung, daß alles Nachfolgende gar nicht mehr beachtet zu werden brauchte. Auf Postillone und Pferde wird nicht Rücksicht genommen, deshalb ging es mitten im furchtbarsten Ausbruch des Gewitters unaufhaltsam weiter, nur waren dem Viergespann noch zwei Vorpferde zugegeben worden, auf deren einem ein zwölfjähriger Junge saß und den Kantschu schwang wie ein Alter. Das war eine Fahrt! Der schwarze Boden des Weges war durch den Regen in einen weichen Brei verwandelt, in welchen die Räder des leichten Wagens einsanken bis an die Naben; da galt es nun, diesen und den Hufen des Gespanns gar keine Zeit zum Versinken zu gönnen, und so flogen wir denn dahin ventre à terre oder vielmehr à bourbe. In wenigen Augenblicken war für uns, die wir bei geschlossenen Fenstern im Innern saßen, die Außenwelt verschlossen durch einen Vorhang von zähem, braunem Schlamm, der den ganzen Wagen incrustirte; wie die Postillone ausgesehen haben, konnte sich blos die Phantasie vorbilden. Kaltblütig unterhielt mich mittlerweile mein Freund von den vielen Unglücksfällen, welche bei dergleichen Kirchthurmrennen vorzukommen pflegen. Besonders gefährlich ist die Position des Vorreiters. Stürzt sein Sattelpferd, so vermag das nachfolgende Gespann unmöglich in der wildesten Carriere plötzlich anzuhalten, es schießt mit dem Wagen und seinen Auf- und Insassen über das am Boden liegende Thier hinweg, und es entsteht ein furchtbarer Knäuel, bei dessen endlicher Lösung nicht Alles wieder auf die Beine kommt, was vorher darauf gewesen war; glücklich, wenn nur ein paar Pferde darauf gegangen sind; gewöhnlich bleibt aber der Vorreiter auf dem Wahlplatz als Opfer seines halsbrechenden Berufs; aber es ist nur ein Junge. Warum also viel darüber reden? Versuchen wir lieber, den schlimmen Weg zu verschlafen. Ich gestehe, mir war dies nicht möglich, und ich suchte unbemerkt einige gelinde Vorkehrungen gegen einen unvorhergesehenen Anprall zu treffen; mein Begleiter lächelte mit geschlossenen Augen. Ohne Rast, ohne Abwechslung in der Gangart, aber auch ohne Unfall ging es weiter. Von der Gegend war nichts zu sehen, die Gewöhnung stählte gegen die Furcht; spät in der Nacht erreichten wir endlich das Ziel.

Aus dem Wagen steigend, umringte uns sofort eine Meute knurrender Hunde, eine Alte mit einer Laterne verscheuchte die bösartigen Thiere, und küßte mit tiefer Verneigung wiederholt den Rockärmel ihres Herrn und Gebieters, dann öffnete sie die Thüre seines Palastes oder vielmehr Landsitzes. Ländlicher hatte ich allerdings bis dato nichts gesehen; ein großes Zimmer und ein Cabinet bildeten die gesammten Räumlichkeiten, sie waren einfach mit Kalk geweißt, d. h. wo noch der Bewurf hielt; das Mobiliar bestand aus einem Tisch, einem Stuhl, einer Feldbettstatt mit Matratze und einem Leuchter. Also einfach. Kerzen hatte mein Gefährte mitgebracht, einen wohlversehenen Flasckenkeller ebenfalls. In der dem Herrenhause gegenüber befindlichen Wohnung ward es lebendig, verzweiflungsvolles Hühnergeschrei und ein durch die offene Thüre sichtbares hoch aufloderndes Feuer eröffneten beruhigenden Trost. Jetzt kamen die Leibeigenen, den lang abwesend gewesenen Herrn zu begrüßen. Den Vornehmsten darunter, dem Verwalter und dem Schafmeister, ward die Ehre der Umarmung und des Kusses, die Andern begnügten sich mit Handschlag und Aermelküssen. Vieles hatte der Edelmann zu fragen und zu hören. Während dessen beschäftigte ich mich mit der Möblirung des großen für mich bestimmten Zimmers. Einige Koffer und ein Regenschirm machten in dieser Hinsicht allerdings keinen sonderlichen Effect, desto größeren aber das rasch aufgeschlagene Bett, welches die Hälfte des Raumes einnahm, und aus einigen gewaltigen Heubündeln ebenso einfach als zweckmäßig bereitet ward. Nicht lange und ein wahrhaft luxuriöses Mahl dampfte auf dem Unicum der Tische, darunter die köstlichen Pascharski-Cotelettes aus Hühnerfleisch, welche nur russische Köche zu bereiten wissen, und denen zu Ehren Kaiser Nicolaus manche Fahrt gemacht hat zu dem Postmeister Pascharski, der sie erfand in einer Stunde der Noth und Inspiration, als der Czar vor seinem Hause hielt, ein Mahl begehrte und nichts vorhanden war, wie einige lebensmüde Hühner. Aber nachdem die Begierde des Trankes und der Speise gestillt war – führte die Schaffnerin mich zu dem schön bereiteten Lager – um mit Homer zu reden.

Bald umfing mich der tiefe Schlaf der Ermüdung, allein er wich ab und zu dem Erscheinen allerlei kleiner Gespenster, welche wahrscheinlich den Fremden strafen wollten für sein unbefugtes Eindringen in ihr lang gehegtes Asyl. Von den Gästen im Heu gar nicht zu reden, an diese wird man im Süden bald gewöhnt, wenn sie es nur nicht so arg treiben, wie verschiedene Gattungen blutdürstiger Zecken, von welchen eine sogar nur den Ausländer anzapfen soll. Aber es flirrte und schwirrte sonderbar, stieß und trommelte an die Scheiben, rauschte und surrte so überlaut, daß ich endlich beschloß, auf die Ruhestörer Jagd zu machen. Mit einigem Gefühl von Schrecken und Ekel bekam ich große, lebhaft sich sträubende, wollig anzufühlende Geschöpfe in die Hand, welche sonderbar schrieen, als ich sie unbarmherzig todtquetschte – es waren prächtige Todtenköpfe, wie sich beim Morgenlichte ergab, die Sehnsucht und der Stolz junger deutscher Schmetterlingssammler, hier ganz ordinäre, überall verbreitete Abendfalter. Nach der Jagd wollte ich wiederum einschlafen, aber der erzwungene Waffenstillstand dauerte nicht lange; mit dem ersten Grauen des Morgens begannen die Fliegen munter zu werden, welche Decken und Wände betüpfelten, und ihre unverschämten Spaziergänge mit den kitzelnden Beinen erzürnten mich endlich so sehr, daß ich aufsprang und hinauseilte vor die Thüre des Hauses.

Welch’ ein Anblick! Der Sonne goldener Ball war eben am Horizont emporgestiegen und endlos, unermeßlich nach allen Richtungen breitete sich aus die Steppe. Derselbe Eindruck, großartig und doch herzbeklemmend, befiel mich, den ich empfunden, als ich einst zum ersten Male aus der Koje auf das Verdeck stieg und rings nur Himmel und Wasser erblickte. Wie damals das Schiff, so waren jetzt die paar dürftigen Häuslein hinter mir das Einzige, was an den Menschen erinnerte in der stillen, großen Oede, in welche das Auge sich verlor bis in meilenweite blaue Fernen. Das braune Grün, welches die Fläche überzog, ward hier und da vom Wind in leisen Wellen bewegt, da und dort erstieg aus einer Senkung ein Hügel, gleich einer stillstehenden Woge, und die funkelnden Thautropfen an den Fahnen der Halme glichen dem Schaume der rollenden Wasser. Statt der spitzbeschwingten Möven kreisten langsam Raubvögel über ihrem Jagdreviere, sonst kein lebendes Wesen weit und breit. Vergebens späht der Blick im ganzen Umkreise nach einem Gegenstande, an dem er haften könne; eintönig, ohne Unterbrechung dehnt sich das braune Gefilde, kein Strauch, kein Baum, kein Fels, kein Rauch aus einem wirthlichen Schornsteine, der des Menschen Nähe verkündet – nur Steppe, weiter nichts als Steppe. Wunderbar sind die gewaltigen, zerklüfteten Bergriesen der Schweiz mit dem diamantengekrönten Scheitel, prachtvoll und romantisch blicken die blauen Augen italienischer Seen aus dem Kranze ihrer Ufer zum Himmel auf, furchtbar und erdrückend in seiner Größe ist draußen das hohe, finstere Meer oder die an die Klippen donnernde Brandung – aber eben so mächtig ist der Eindruck, welchen die Steppe macht in ihrer nackten Leere, durch die Unermeßlichkeit und grauenvolle Einsamkeit, in deren Mitte sie den Menschen versetzt. Und derselbe schwindet nicht, man gewöhnt sich keineswegs daran – täglich erwacht er auf’s Neue und täglich gewinnt er an Tiefe. So wenigstens habe ich es empfunden, der ich viele Wochen lang gewohnt mitten in den Steppen, in dem kleinem Choutor – (tatarisches Wort für Sommerwohnung, Villa; allgemein gebräuchlich) – welchen ich beschrieben. Daß aber nicht allein in ihrer ungeheueren Ausdehnung, sondern auch in ihren Einzelnheiten die Steppe vielfach Interessantes bietet, davon hoffe und wünsche ich die werthen Leser zu überzeugen.

Aus meiner Betrachtung ward ich etwas prosaisch geweckt und geschreckt durch den plötzlichen wüthenden Anfall eines Hundes, zu welchem sich sofort die ganze Meute von gestern Abend gesellte. Die Köter sahen verzweifelt wild aus, ihr zottiges graubraunes Fell, die falschen Augen und riesigen Fangzähne, die sie mir höchst ungastfreundlich wiesen, unterschieden sie fast nicht von dem Wolfe, dessen Enkelkinder sie sicherlich sind und welcher dennoch ihr größter Feind ist. Mit strategischer Vorsicht und beständigem Bücken nach nicht vorhandenen Steinen bewerkstelligte ich meinen Rückzug bis zu einem an der Wand des Hauses lehnenden Knüttel, dessen Besitz mir sogleich die gehörige Autorität verschaffte. Durch den Höllenlärm der Hofwächter waren aber mittlerweile auch die übrigen Bewohner des Choutor erwacht; bald brodelte der Samowar und nach dem Frühstück begann die Besichtigung des Gehöftes. Sie war in wenigen Minuten beendet, denn zu sehen gab es eigentlich nichts, als die beiden strohgedeckten Wohnungen, einen ditto Schafstall und ein rohes, vernachlässigtes Gehege, welches den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_159.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)