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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

und sprang, ich war damals achtzehn Jahre alt, ohne mich um den Weg zu kümmern, den untern Berg hinauf. Bald stand ich auf dem sogenannten Patrouillenwege, am Fuße des hohen Sandsteinfelsens, auf dem die Festung erbaut ist. Wie Sie von hier aus sehen können, ist’s die Ostseite und zugleich die steilste Felsenpartie.

„Ich blickte an der Felswand hinauf und gedachte eines Gesprächs, das einst während meiner Lehrzeit zwischen Meister und Gesellen geführt wurde. Sie redeten vom Königstein und der Gesell behauptete, es sei möglich, in die Festung zu kommen, ohne auf dem gewöhnlichen Wege durch’s Thor zu gehen. Mein alter Meister schüttelte den Kopf; es kam ihm unglaublich vor. Ich hörte still zu. – Jetzt stand ich vor der Felsenwand und sah darin die Risse und Spalten, von denen damals der Gesell gesprochen hatte. – Wie der Blitz fuhr mir der Gedanke durch die Seele, gleich auf der Stelle hinaufzusteigen. Das konnte ein Mittel werden, alle meine Verlegenheiten zu beseitigen. – Ich komme glücklich hinauf; man lacht, wundert sich darüber, gibt mir zu essen, vielleicht belohnt man mich sogar für mein Wagniß mit Geld. Und wenn mir das Glück recht günstig, so treffe ich dort oben meinen Bruder, der Soldat war.

„Ich rüste mich zum Aufsteigen. Genau besehe ich die Felsenrisse; nur einer führt bis hinauf; er ist oben mit der Brustwehr überwölbt – einmal dort, werde ich mich leicht über die niedrig scheinende Mauer hinwegschwingen können. Die Stiefeln würden mich beim Steigen hindern; ich entledige mich ihrer, binde sie zusammen und hänge sie um den Hals, so daß sie an der Brust liegen. Meinen Stock, den ich mir kurz zuvor im Walde abgeschnitten, lehne ich neben den Felsenriß und klettere nun in demselben wie in einem Schornsteine hinauf.

„Ich weiß nicht, lieber Herr, ob Sie einmal einen Schornsteinfeger haben steigen sehen? Wir gebrauchen dabei besonders die Kniee, stemmen sie gegen die Vorderwand, mit dem Rücken lehnen wir uns fest an die Hinterwand und schieben uns so die Esse hinauf. Die Hände gebrauchen wir dabei weniger, die haben mit dem Besen zu thun. Auf diese Weise stieg ich im Risse in die Höhe. Er mochte im Durchschnitt etwa 1½ Elle breit sein, wurde manchmal schmäler, erweiterte sich aber auch zuweilen bis zu zwei Ellen. Vor und hinter mir hatte ich Felsen, linker Hand das Elbufer und rechts den immer enger werdenden, sich im Felsen verlaufenden Riß. So viel als möglich suchte ich an der Außenseite des Felsensprunges zu klettern, da er nach innen zu naß und schlüpfrig wurde.

„Die Kräfte waren noch frisch; ich stieg im Anfange rasch vorwärts und war schon ein hübsches Stück in die Höhe, als es im Städtchen zehn Uhr schlug. Hier und da wuchsen auf meinem Wege kleine Gebüsche, besonders Stachelbeersträucher. Beim geringsten Versuche, mich daran festzuhalten, gaben sie nach und stürzten in die Tiefe hinab; sie waren im Felsen zu locker eingewurzelt. Immer höher stieg ich; aber auch immer öfter mußte ich innehalten, um neue Kraft zu gewinnen. So bin ich etwa die Hälfte hinauf, – da stoße ich auf einen Sandsteinblock, der im Risse klemmt. Wahrscheinlich war er beim Baue der Brustwehr heruntergefallen und hier hängen geblieben. Ich versuche, ob er fest liegt, trete darauf, setze mich, er wankt nicht. Neuer Muth durchströmt meine Adern; ich kann ausruhen.

„Da sitze ich nun, mit dem Rücken dem Felsen zugekehrt, und freue mich der schönen Aussicht. Tief unten liegt das Städtchen; die Elbe blitzt im Sonnenscheine und gleich Nußschalen schwimmen die Schiffe auf ihr hin. Mir gegenüber erhebt sich der Lilienstein. Aber wir haben die Gegend vor uns, was brauche ich sie Ihnen weiter zu schildern? Ich steige in meiner Spalte weiter. Plötzlich prasselt unter mir etwas den Riß hinunter; mir ist’s, als ob der Felsen wanke – erschreckt halte ich inne. Mein Ruhestein, jedenfalls durch meine Körperschwere gelockert, ist hinuntergestürzt. Einige Minuten früher, und ich lag mit ihm dort am Felsen zerschellt. Ich schaue hinab in die gähnende Tiefe; ein kalter Schauer überläuft mich. – Glauben Sie aber nicht, lieber Herr, daß ich deshalb ängstlich wurde. Schornsteinfeger sind solche Dinge gewohnt und ich kenne überhaupt Furcht nur dem Namen nach.

„Gewaltsam raffe ich mich zusammen und klettere wsiter. Wieder erschwert mir im Spalt wachsendes Gestrüpp meinen Weg. – Vorwärts! – Der Felsenriß wird enger, kaum kann ich mich hindurchwinden; er erweitert sich, ich kann ihn kaum mehr ausspannen. Die Zeit beginnt mir entsetzlich lang zu werden. Mir ist’s, als ob ich schon Tage lang in dieser Spalte, stecke. Wenn mich jetzt Schwindel erfaßt! – Wenn ich ausgleite, rettungslos bin ich verloren! Ich schaue empor, ob ich bald am Ziele. Der Riß windet und krümmt sich, ich kann das Ende nicht erblicken.[1] Ein fieberhaftes Drängen ergreift mich. Höher, höher! – Der Spalt wird weiter und weiter, jetzt kann ich ihn nicht mehr ausspannen, und somit auch nicht weiter klettern. Ueber mir wölbt sich die Brustwehr, sie ragt über den Felsen hervor. Von unten so unbedeutend aussehend, stellt sie sich mir entsetzlich groß, ein unüberwindliches Hinderniß entgegen. Kalter Schweiß rinnt mir über die Stirn. Ich kann nicht weiter. Ich bin verloren und aus der Tiefe schaut der Tod zu mir herauf. Jeder Nerv spannt sich. An die Außenseite des Risses kletternd, beuge ich mich so weit als möglich hervor und spähe umher, ob Rettung möglich. Dort, etwa zwei Ellen von mir, ist ein Felsenvorsprung. Wenn ich ihn erreichen könnte! Ein Vöglein fliegt zwitschernd vorüber und läßt sich auf ihm nieder. Der Vorsprung verläuft sich nach dem Risse zu, so daß er vielleicht eine halbe Elle davon als handbreit vorstehende Felsenkante erscheint. – Könnte das meine Rettungsbrücke werden?

„Ich hatte mich wieder gefaßt. Langsam griff ich hinüber; gleich eisernen Klammern gruben sich meine Finger in die Felsenkante. Jetzt fühlte ich, daß die Hände fest ruhten, und zog nun allmählich den Körper nach. So hing ich an der steilen, gegen 400 Fuß hohen Felsenwand da, mich nur auf die Kraft meiner Finger verlassend. Wider Willen zwang es mich, in die Tiefe zu schauen; ich konnte sie nicht mit dem Auge ausmessen. In diesem Augenblicke der höchsten Gefahr war ich am besonnensten; ich wußte, daß ich das Letzte wagte. Eine Hand der andern nachgreifend, so mit gebogenen Armen weiter klimmend, gelang es mir, mein Ziel zu erreichen. Ich hob mich empor, legte mich mit dem Oberkörper auf den Vorsprung und war gerettet.

„Es währte ziemliche Zeit, ehe ich mich so weit erholt hatte, daß ich an die Vollendung meiner Reise denken konnte. Ich besah mir meinen derzeitigen Aufenthalt. Der Vorsprung ist etwa vier Quadratellen groß. Vor mir erhob sich die fünf Ellen hohe glatte Brustwehr. Sie ist aus großen, in Kalk eingesetzten Sandsteinquadern erbaut; Wind und Wetter haben im Laufe der Jahre den Kalk zwischen den Steinen mehrere Zoll tief ausgewittert. Ich hänge meine Stiefeln wieder um, aber jetzt so, daß sie auf den Rücken zu liegen kommen, greife mit den Fingern in die Steinfugen, setze die Zehen darin ein und steige so an der Mauer in die Höhe. Die obersten Steine sind glatt und schräg gearbeitet und stehen wenigstens eine halbe Elle gleich einem Dache vor. Zwischen diese schräg liegenden Steine, die zum Glück nicht so breit sind, kann ich mit der ganzen Hand hineingreifen. Ich versuche erst, durch eine Schießluke einzusteigen, doch die sind zu glatt ausgearbeitet; ich muß daher über eine Erhöhung zwischen zwei Luken klettern. Mit der rechten Hand mich in einer Fuge festhaltend, gebe ich der linken einen Schwung und suche die innere oberste Mauerkante zu ergreifen. Es gelingt. Ich fasse fest an, ziehe die rechte Hand nach, erhebe den Körper und – schaue in’s Innere der Festung. Mir gegenüber ist ein Haus, dahinter Wald, rechts und links die Schildwachen, die auf mich zukommen. Ein Augenblick ist hinreichend, mich dies sehen zu lassen. Schnell beuge ich mich mit dem Kopfe nieder, um nicht von den Schildwachen bemerkt zu werden.

„Während ich wie eine Schwalbe an der Mauer klebe, mich nur mit den Händen knapp an der Kante haltend, läuten unter mir in der Stadt die Glocken zu Mittag. Da überkam mich das Zittern. – Lieber Herr, wir Schornsteinfeger wissen, was das zu bedeuten hat. Die Kraft wird plötzlich alle, die Sinne schwinden, Hände und Füße ziehen sich krampfhaft zusammen und – im nächsten Augenblicke stürzt man herunter. Da raffe ich meine letzten Kräfte zusammen. Jetzt oder nie! Ein gewaltiger Schwung, ein gewaltiges Heben, und ich bin in der Festung. In demselben Augenblicke durchzuckt mich ein entsetzlicher Schmerz; ein eiserner Pflock, auf den ich gesprungen, drängt sich zwischen die beiden kleinen Zehen meines rechten Fußes und reißt mir die Hälfte derselben weg. Durch den Blutverlust und die Anstrengung erschöpft,, wanke ich noch einige Schritte und sinke dann halb ohnmächtig auf den Rasen hin.

Nach einiger Zeit bemerkte mich die Schildwache. Mein Anzug, aus einem Soldatenfracke, schwarzen Beinkleidern und einer braunen Plüschmütze bestehend, mochte ihr doch etwas feindlich vorkommen.

  1. Auf der Abbildung ist der Riß durch eine Stange auf der Brustwehr bezeichnet.     D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_172.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2023)