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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Nonne in schon erschreckender Menge besetzt war. Jetzt wurde der allgemeine Vertilgungskrieg angeordnet, und noch wäre es, nach dem Urtheil aller Sachverständigen, möglich gewesen, des Insectes Herr zu werden und wenigstens der gänzlichen Vernichtung der Wälder vorzubeugen, wenn sich dasselbe nicht durch immer neue enorme Zuzüge aus Polen rekrutirt hätte. So aber wurde man schon im folgenden Jahre inne, daß Alles vergeblich, daß es „zu spät“ sei.

Man hat den verschiedenen Insecten gegenüber verschiedene Mittel der Vertilgung, welche aus ihrer Lebensweise und Oekonomie abgeleitet sind. Diese sind in allen vier Zuständen anzuwenden. Am wenigsten anräthlich, weil von ungewissem und unvollkommenem Erfolge, ist – wenn wir bei der Nonne stehen bleiben – das Einsammeln der Schmetterlinge. Dieselben sitzen meist so hoch am Stamme, daß man ihrer nur mit Mühe habhaft werden kann, sie sind unruhig und beweglich, und es werden mit den Weibchen eine gleiche Anzahl unschädliche Männchen eingefangen. Die Zeit der Einsammlung ist sehr kurz zugemessen, weil nach der Ablegung der Eier, also nach acht, höchstens vierzehn Tagen von der Erscheinung des Schmetterlings an, das Sammeln der nun doch dem Tode verfallenen Falter zwecklos ist, und weil daher die aufgewendeten Kosten noch nie durch Erfolge gerechtfertigt worden sind. Hiervon und von der Absuchung der meist schwer aufzufindenden Puppen sah man daher in Litthauen völlig ab und wendete sich mit desto größerer Energie der Sammlung der Eier und der Vernichtung der Räupchen zu.

Die Eier sind, wie oben gesagt, vermittelst ihrer Legeröhre in die Rindenschuppen geschoben und dort festgeklebt. Man findet sie daselbst gewöhnlich in Nestern von 20–80 Stück beisammen liegen, und das Auge gewöhnt sich bald an ihre Auffindung. Da solche Nester aber auch vielfach in einer dem Menschen nicht erreichbaren Höhe liegen, muß jeder Sammler mit einer Leiter versehen sein.

Als das Geschäft erst einmal im Gange war und die Arbeiter sich überzeugten, daß sie zu einem guten Verdienst kämen, waren in den einzelnen befallenen Revieren bald Hunderte von Arbeitern, Männer, Weiber und Kinder, mit dem Einsammeln der Nonneneier beschäftigt. Die Bezahlung erfolgte lothweise, der Preis wurde selbstredend nach dem Vorhandensein von Eiern abgemessen und im Laufe der Monate und Jahre immer geringer, bis zuletzt im Jahre 1855 das Loth mit vier und drei Pfennigen bezahlt wurde! Das Loth Nonneneier enthält erfahrungsmäßig mindestens 20,000 Stück. Wenn man nun bedenkt, daß mehr als 10,000 Pfund Eier eingesammelt worden sind, ja daß in einem einzigen, nicht einmal übergroßen Forstreviere fast 3000 Pfund in noch nicht ganz drei Jahren zusammengebracht sind, und daß trotz alledem die Nadelholz-Wälder ihrem fast vollständigen Untergange nicht entrissen werden konnten, so wird man einen ungefähren Begriff von der Menge der vorhandenen Raupen erhalten.

Die Productionskraft dieser, sowie überhaupt der meisten Insecten ist aber auch eine staunenswerthe, und eine Berechnung derselben verliert sich alsbald in Zahlen, welche nur auszusprechen, selbst für einen Dahse seine Schwierigkeit haben würde!

Ein Schmetterling legt durchschnittlich fünfzig Eier. Daraus entstehen im nächsten Jahre funfzig fressende Raupen, da die Witterung, sei es auch der allerhärteste Frost, keinen nachtheiligen Einfluß auf die Entwickelung des Insectes ausübt. Aus diesen funfzig Raupen entstehen funfzig Schmetterlinge, von welchen erfahrungsmäßig die Hälfte Weibchen sind. Im darauffolgenden Jahre kann man also mit Sicherheit 25 x 50 = 1250 Raupen erwarten und im Herbste hiervon 625 weibliche Schmetterlinge, und schon im dritten Jahre 31,250 gierig fressende Raupen, welche ihr Dasein sämmtlich nur einer, erst vor zwei Jahren erzeugten Stammmutter verdanken. Viele hundert Raupen fressen nun an einem einzigen Baume, viele tausend Bäume gehören dazu, um einen großen Wald zu bilden – doch wohin führt uns das? Wir müssen es der Phantasie des Lesers überlassen, sich das Weitere selbst auszumalen!

Man begnügte sich in den Wäldern Litthauens aber nicht allein mit der Sammlung der Eier, man setzte die Vernichtungsmaßregeln auch gegen die Raupen fort, welche, wie oben bemerkt, noch einige Tage nach ihrem Ausschlüpfen aus den Eiern auf demselben Flecke beisammensitzen und sich an der Luft stärken. Arbeiter, mit kleinen Stampfen versehen, mußten die Bestände durchwandern und Baum für Baum nach diesen Nestern – mit dem technischen Ausdrucke „Spiegel“ genannt – absuchen, um sie zu zermalmen. Unzählige Raupen sind durch dies Verfahren noch vernichtet worden, und doch mußte man sich im Jahre 1855 gestehen, daß menschliche Kräfte unzureichend seien; daß eine weitere Aufwendung von Geldmitteln nicht zu verantworden wäre, und daß man es jetzt der Natur allein überlassen müßte, dem von ihr hervorgerufenen Unheil auch wieder Einhalt zu gebieten.

Im Sommer des Jahres 1856 erreichte die Menge der vorhandenen Raupen ihren Höhepunkt. Sie ging nun in der That in das Unglaubliche. Näherte man sich einem Bestande, in welchem die Raupen hausten, so vernahm man schon in einiger Entfernung ein Knistern und Knastern, als ob ein leiser Wind durch die Wipfel führe, oder als ob ein Feuer nicht weit davon eben im Aufflackern begriffen wäre. Es waren nur Raupen, welche dies Geräusch hervorbrachten, theils durch das Zerbeißen und Zernagen der Nadeln, theils durch das Hinabwerfen dieser und durch ihren herniederfallenden Koth. Die Bäume waren schon fast völlig kahl gefressen, und an jedem Aste, an jedem Zweige hingen die Raupen klumpenweise. Der Erdboden war mit denselben wie besäet, so daß man kaum einen Grashalm dazwischen gewahren konnte. Kleinere trockene Gräben waren bis zum Rande angefüllt mit dem jetzt ziemlich matten und kraftlosen Insect, und darüber hinweg krochen andere Milliarden, um nach neuer Nahrung zu suchen. Die Wege waren so hoch mit Raupen bedeckt, daß ein Wagen tiefe Geleise in denselben zurückließ, welche freilich alsbald durch die nachrückenden Schaaren der Raupen wieder ausgefüllt wurden. Es war ein trauriger, entsetzlicher, ekelhafter Anblick! Das Wild hatte sich in die Brüche und die dichtesten Schonungen zurückgezogen, und selbst das Weidevieh konnte und mochte die spärlichen, übrig gebliebenen Gräser nicht fressen. Endlich aber war der ferneren Verbreitung der Raupen ein Ziel gesetzt. Der ungeheueren Mehrzahl nach schon krank, starben sie, ohne zuvor in den Zustand der Puppe überzugehen, indem sie einen widerwärtigen Verwesungsgeruch zurückließen. In der Luft aber lebte und webte es von Schaaren kleiner beflügelter Insecten, Fliegen und Mücken von den allerverschiedensten Formen und Gestalten, welche recht in ihrem Lebens-Element zu sein schienen.

Diese kleinen, meist der Ordnung der Zweiflügler angehörigen Insecten bilden das von der Natur selbst dargebotene Gegengewicht: sie – und sehr wahrscheinlich noch andere, uns nicht bekannte Ursachen – bewirken das auffallend schnelle Verschwinden der Raupen. Als Strafe für ihre Gier und das verübte Unheil, müssen sie einen qualvollen Tod sterben. Ihre Leiber sind die Brutstätten dieser Mücken und Fliegen und Schlupfwespen geworden, welche sich bis zur Vollwüchsigkeit in der Raupe selbst ernähren und dann den halbverzehrten, meist noch lebenden Körper verlassen, um andere, noch gesunde Raupen zu suchen, und auf oder in diese wieder ihre Eier zu einer neuen Generation abzulegen. Ihre Vermehrung hält mit jener der Raupen gleichen Schritt, und die Zahl ihrer Arten ist sehr bedeutend.[1] Es sind übrigens nicht allein die Raupen, welche diese lästigen Gäste beherbergen müssen, manche Species stechen die Puppen an und verhindern dieselben, sich zum Falter auszubilden, und wieder andere suchen die Eier auf, welche sie zerstören.

Außer diesen Ichneumonen und Schlupfwespen sind auf der Erde eine Menge von Raubkäfern, Ameisen und anderem Gewürm thätig, sich auf die Raupen zu werfen und sie zu vernichten. In der Luft aber schwirrt es von allerhand Vögeln, als besonders Krähen, Stahren, Spechten aller Art und vielen kleinen Sorten, welche in den Raupen wüthen und sich an dieser Speise fett mästen.

Alles dies wirkt zusammen, um in dem dritten Jahre des Hauptfraßes der Verwüstung ein Ziel zu setzen. Auch in den litthauischen Wäldern waren im Herbst des Jahres 1856 die Raupen verschwunden und nur sehr wenige Schmetterlinge zur Entfaltung gekommen, von welchen wiederum nur sehr vereinzelt Eier gelegt wurden.

Wie aber sahen die Wälder ans, nachdem die Raupen drei volle Jahre mit ihrer fabelhaften Gier und Verschwendung darin gehaust! Der Freund der Natur jammerte bei ihrem Anblicke. Und

  1. Ratzeburg, unser berühmter Entomologe, hat bis gegen tausend Species von Ichneumonen herausgefunden. Es entstehen jedoch begründete Zweifel, ob in der That so viele existiren und ob sich nicht dieser ausgezeichnete Gelehrte mitunter durch Spielarten täuschen ließ, welche er für besondere Species hielt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_058.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)