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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

den Fuß auf den Rücken dieses verräterischen Stromes, und Manchem fällt dann, wenn er ihn so, einem gefangenen Riesen gleich, unter seinen Füßen sieht, wohl ein, wie furchtbar dieser Riese in seiner Entfesselung ist, wie verderbenbringend er schon in solchen Wuthanfällen in das Herz Petersburgs, Alles vor sich niederwerfend, eingedrungen ist. Welcher Petersburger hätte z. B. den 19. November 1824 vergessen?

Noch kurze Zeit, und die schon stark gefrorene Decke der Newa wird immer belebter. Die Schlittschuhläufer erscheinen auf den von Schnee gesäuberten und rund herum mit Tonnen eingefaßten Plätzen, und schlagen künstlich verschlungene Kreise auf der spiegelglatten Fläche. Bald wagen es auch die Fuhrwerke, und dann beginnt erst das wahre Leben und Treiben. Die eleganten Schlitten, von ihren scharf beschlagenen Pferden gezogen, sausen in allen Richtungen über die ebene Fläche, Wettrennen werden veranstaltet, der Petersburger Dandy, denn Dandies gibt es nun einmal überall, metamorphosirt sich zum Sportman, und mancher blasirte Sohn Albions, der mit großem Eigendünkel von seinen Vollblutrennern spricht, würde alsdann über die Leichtfüßigkeit eines russischen Trotters mit Recht erstaunt sein.

Der Petersburger beschränkt sich indeß nicht auf diese Vergnügungen in den Grenzen der Stadt. Es treibt ihn hinaus in die winterliche Landschaft. Wie der Pariser im Sommer das Bedürfniß empfindet, nach Passy oder Fontainebleau zu wandern, um dort im Grünen aus üppigem Rasen ein frugales Mahl zu verzehren, der Berliner in Saatwinkel oder Tegel seinen traditionellen Familienkaffee trinkt, und der gemüthliche Dresdner in Loschwitz hinter seinem „Dräsner“ Waldschlößchen sitzt, so hat der Petersburger seine Picknicks in Serpia, Strelna oder sonstigen zu diesem Zwecke auf das Eleganteste eingerichteten Etablissements. Doch müssen wir bemerken, daß diese Vergnügungen nicht, wie die eben genannten, allgemeine Volksvergnügungen sind, sondern im Gegentheile nur die haute volée und Alle die, welche sich für berechtigt halten, sich unter diese zu zählen, an diesen Ausflügen Theil nehmen, aus dem einfachen Grunde, weil ein solches Vergnügen, wenn sich die Theilnehmer auch mit dem größten Anstande auf demselben ennuyiren, stets mit bedeutenden Ausgaben verbunden ist.

Bei derartigen Partien spielt das nationale russische Dreigespann, die sogenannte „troika“, die Hauptrolle. Zu einer bestimmten Zeit, in der Regel gegen die Mittagsstunde, versammelt sich eine zahlreiche Gesellschaft an einem Orte, und bald jagen die zahllosen Schlitten auf der Straße dahin, welche nach dem zwei bis drei Meilen von der Stadt entlegenen Orte führt.

Aufrecht steht der Kutscher in dem Vordertheile des Schlittens, sein Dreigespann durch lautes Rufen zu einer größeren Eile anspornend; Einer sucht dem Andern den Rang des Ersten streitig zu machen, und gleich höllischen Dämonen fliegen die dampfenden Pferde, mit ihren tief eingreifenden Hufen den losen Schnee hoch hinter sich auswerfend, über die ebene Fläche. In kurzer Zeit hat die Gesellschaft ihr Ziel erreicht; ein warmer Imbiß, oder auch eine elegant besetzte Mittagstafel empfängt sie, und wenn die Gesellschaft gut gewählt, und besonders die steife Etiquette einer vertraulichen ländlichen Gemüthlichkeit Platz macht, so kommt es wohl vor, daß man von einem solchen Picknick die heiterste Erinnerung mitnimmt. Besonders wenn manch’ Gläschen Wein während des Diners vollkommen alles steif Ceremonielle verscheucht hat, und ein einladender Walzer oder Contre-Danse im Tanzsaale erschallt, kann man mit Recht sagen, daß ein derartiger Ausflug ein sehr gemüthliches Vergnügen ist. Getanzt wird, und zwar tüchtig, denn oft bricht die Gesellschaft erst gegen drei bis vier Uhr Morgens auf.

Ist nun schon die Hinfahrt ein wahrhaft dämonisches Rennen gewesen, so ist dies noch weit mehr bei der Heimfahrt der Fall. Wie Gespenster sausen die Schlitten über die in hellem Mondschein erglänzende Bahn, und weit durch die stille Nacht hin hört man das Gejauchze der fröhlichen Kutscher. Denn diese haben nicht, wie man wohl glauben könnte, eine Tasse Kaffee getrunken, während ihre Herren hinter feurigen Weinen und schäumendem Champagner saßen, sondern so recht nach Herzenslust einen kräftigen Zug aus der Schnapsflasche genommen, und mancher von ihnen glaubt, während er so an dem andern vorbeirast, wenigstens ein Dutzend Pferde vor seinem Schlitten und mehrere Dutzend Personen in demselben zu haben.

Doch nicht immer thaut das Eis der Etiquette und des steifen Ceremoniells auf; die Petersburger Salondame kann einmal das Künstliche, Gemachte, dieses Positionenstudium und ästhetische Gliederverrenken nicht leicht ablegen, und – o weh – dann, welche Ungemüthlichkeit, welche Langeweile, welche fade, einschläfernde Verdrossenheit! Mögen sie aber schlecht oder gut ausfallen, diese Picknick’s, Jeder, der das Vergnügtsein in der wahren, ungezwungenen Gemüthlichkeit suchen will, wird jedenfalls immer eine echte deutsche Gesellschaft, und sei es auch nur hinter der traditionellen Bunzlauer Familienkaffeekanne oder der schäumenden Weißen, diesem Künstlichen, Gemachten vorziehen.




Zur Geschichte des Volks-Aberglaubens.
Der Freibrief. (Mit einem Original-Freibrief.)
(Aus der sächsischen Ober-Lausitz.)

Auf dem Lande geboren und erzogen, hatte ich schon als Kind mannichfache Wunderdinge und Spukgeschichten vom wilden Jäger und seinen nächtlichen Zügen durch die Luft mit feuerschnaubendem Roß und kläffender Hundemeute, von verführenden Irrlichtern, erschienenen Geistern und dem unheimlichen Umgehen des leibhaftigen Bösen mit Hörnern, Pferdefuß und Kuhschweif gehört. Ein besonderes Capitel aber, welches nur im engeren Kreise, in stillen Winterabenden, wo die Hausthüre verriegelt war, abgehandelt wurde, war das Capitel von den Freibriefen. Die Knechte, die in der Hölle hinter’m Ofen oder auf der Ofenbank Spähne schliffen, ließen dann wohl das Messer ruhen und spitzten die Ohren länger, die Mägde am Spinnrade vergaßen zu treten, ließen den Faden in die Spille gerathen und horchten mit offenem Munde, wenn erzählt ward, daß eben diese Briefe die geheime Macht hätten, frei von allen Gefahren durch Schwert oder Geschoß jeglicher Art zu machen. Wer einen Freibrief bei sich habe, der könne durch einen Kugelregen gehen, er werde unverletzt bleiben, denn kein Metall werde ihm etwas anhaben. „Aber,“ fügte man halblaut hinzu, „die Polizei – – sie suche und fahnde überall nach solchen Briefen, und habe die meisten schon weggenommen, sodaß leider Freibriefe jetzt nur noch höchst selten seien. Es sei das mit dem sechsten Buch Mosis gerade so gewesen. Der Rath der Stadt Z. habe alle Bibeln wegnehmen lassen, welche auch das sechste Buch enthalten hätten. Darin ständen aber eine unzählige Menge von Moses selbst beschriebener Mittel und Geheim-Recepte, Gold zu machen, edles Metall in der Erde sofort zu entdecken, wo es liege, übernatürliche Kräfte in seine Gewalt zu bekommen, die heut noch wie ehedem vorhanden, aber nicht mehr gekannt seien. Was hätten früher nicht alle Leute Alles gekannt!, jetzt wisse Niemand etwas mehr, außer etwa der Scharfrichter oder die Zigeuner und Seiltänzer. Die Hexen seien ersäuft oder gehangen worden, und die Bibeln mit dem sechsten Buch Mosis lägen zehnfach verschlossen auf dem Rathhause zu Z.“

Als ich später von einer auswärtigen Universität zurückkehrte, fand ich mein Elternhaus ziemlich verändert. Meine Mutter hatte sich in’s Ausgedinge zurückgezogen und ein Bauer des Nachbardorfes unser Gut gekauft. Ich sollte in dessen Weibe eine der originellsten Frauen kennen lernen. Anne-Rose besuchte uns bald, zunächst aus Neugier, manches von fremden Ländern, die ich unterdessen gesehen hatte, zu hören, eine Neugier, die bei den untern Ständen meist in einer gutmüthigen Naivetät auftritt. Sie brachte mir als Willkommen ein „Sträuchel“ (Blumenstrauß) und eine Wurst mit und entwickelte durch tausend Fragen und hingeworfene Scherze über ihr geschilderte Menschen und Gewohnheiten sehr bald eine lebhafte Unterhaltung. Wir wurden ziemlich rasch näher bekannt, und ich war über ihre geistige Begabung oft nicht wenig verwundert.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_237.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2021)