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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

sei indessen, als dort nach geraumer Zeit sich nichts geregt, eigeschlafen und wisse nicht, ob die Zusammenkunft stattgefunden. – So sehr nun auch der letzte Punkt im Zweifel liegt,“ fuhr der Justitiar, sich rasch durch das graue Haar streichend, fort, „so hat sich doch mit voller Beweisstärke herausgestellt, daß Fritz Rothe in der letzten Nacht an demselben Orte im Obstgarten, wo der Mord stattgehabt, sich befunden hat – denn,“ setzte er langsam aufsehend hinzu, „den gefundenen Handschuh bezeichnet nicht allein Christine für den Rothe’s, sondern auch ich entsinne mich desselben deutlich – ein ähnliches Paar, wie es der junge Mensch als eine Art von Stutzer trug, werden Sie vergeblich auf unsern Dörfern umher suchen. Wenn erst festgestellt worden, wo der Amtsrath die letzte Nacht gewesen und wann er den Heimweg angetreten, wird sich auch ermitteln lassen, wie die Zeit von Rothes Anwesenheit mit der Rückkehr des Ermordeten stimmt – mir ist,“ fuhr der Gerichtsmann in sichtlicher Erregung fort, „wenn ich an die Mittheilung über das stattfindende Verhältniß zwischen der jungen Frau und dem jungen Menschen denke, der ganze Sachverlauf so klar, daß ich wohl kaum noch ein weiteres Wort darüber verloren hätte, wenn sich nicht die ganze Macht meiner rein menschlichen Anschauung, die sich in der langen Bekanntschaft mit den beiden jungen Hauptbetheiligten gebildet, gegen die Ueberzeugung des Inquirenten auflehnte.“

Das wohlgenährte Gesicht des alten Arztes war im Verlaufe der Rede bleicher und bleicher geworden; dennoch blickte sein Auge fest und ruhig in das des Sprechenden. „Ich kann die gewaltige Macht einer Beweisführung, wie Sie diese andeuten, verstehen,“ sagte er jetzt langsam; „Sie vergessen nur, daß nach Ihrer eigenen Angabe der Stich vom Rücken aus erfolgt, daß das Gras umher unzertreten gewesen ist und daß mithin ein wohlbedachter Meuchelmord vorzuliegen scheint. Wollen Sie sich diesen aber in Verbindung mit einem jungen Manne denken, der seiner Gemüthsart und seinem ganzen bisherigen Leben nach –“

„Das ist es ja eben, was mich in vollen Widerspruch mit mir selbst bringt,“ unterbrach ihn der Justitiar eifrig, „wollen Sie sich aber vermessen, in alle Tiefen der menschlichen Leidenschaft zu dringen, um genau die Grenze zu bestimmen, bis wohin sie Den, welcher ihr in einer unglücklichen Stunde verfallen, führen kann?“

Der Doctor hob kräftig den Kopf. „Alles recht, lieber Herr,“ versetzte er, „aber ich sage Ihnen, daß selbst die Spitze der Leidenschaft einen kräftigen, edlen Charakter nie zum feigen Meuchelmörder machen wird; sage Ihnen, daß diese beiden jungen Leute so unschuldig an dem Geschehenen sind, als wir, die wir hier sitzen, selbst. – Welche Maßregeln haben Sie bereits getroffen?“ setzte er hastig hinzu.

Der Andere zuckte bedauernd die Achseln. „Ich habe pflichtgemäß Rothe’s Verhaftung anordnen müssen – die Amtsräthin habe ich ersucht, bis zu Ankunft der Gerichts-Commission ihr Zimmer nicht zu verlassen, und habe die äußerliche Bewachung desselben angeordnet –“

„Lassen Sie mich den Todten sehen!“ rief der Arzt, sich rasch erhebend, und schritt seinem Gesellschafter selbst nach der Thür voran.




Eine halbe Stunde danach war der Doctor wieder auf dem Heimwege; als er aber den Wald durchschnitten, lenkte er das Pferd, das gewohntermaßen die Richtung nach der kleinen Besitzung an der Anhöhe jenseits des Thales nehmen wollte, auf die Straße nach dem Dorfe im Grunde. Es war das erste Mal, daß er auf seinem Ritt das starr vor sich hin blickende Auge gehoben, und nur ein einziges Bild war es, welches bis dahin seinem innern Auge vorgeschwebt – das war der gefesselte Fritz Rothe, welcher ihm, den Gensd’arm an seiner Seite, beim Austritte aus dem Hofe des amtsräthlichen Gutes begegnet. Ein einziger, voller Blick auf den Verhafteten hatte dem Arzte ein wohl todtenbleiches, aber wunderbar ruhiges Gesicht gezeigt, auf dem sogar etwas wie ein stiller, freudiger Strahl geleuchtet, der in diesem Momente indessen des Alten Gefühl fast wie ein Frevel berührt. „Fritz, um Gotteswillen,“ hatte dieser wie von einem peinlichen Zweifel ergriffen gerufen, „hast Du dem Teufel erliegen müssen? – aber es ist nicht so, ich weiß es, ich weiß es!“ hatte er dann rasch, wie über seine eigenen Worte erschrocken, hinzugesetzt, und ein plötzliches Erstarren in Rothe’s Zügen, als er dem Doctor in’s Gesicht geblickt, hatte sich bei dessen Nachsatze gelöst. „Onkel, das habe ich nicht gethan, was da geschehen ist, und daran halten Sie nur fest!“ war die Antwort gewesen, die unter aufleuchtenden Augen, aber wie aus vertrockneter Kehle sich hervorgerungen; „es spielt wohl Niemand umsonst mit dem Teufel, und darum büße ich jetzt; aber Gott hat uns nicht verlassen!“

Und diese letzte Aeußerung war es, mit welcher der Alte, trotz seiner festgewordenen Ueberzeugung von Rothe’s Unschuld, sich bis jenseit des Waldes herumgequält – etwas mußte vorgefallen sein, was den jungen Mann mit dem Geschehenen in Verbindung brachte, und mehr als einmal hatte der Grübelnde sich die meuchelartige Weise des Mordes wieder vor die Seele rufen müssen, um wieder zu seinem früheren unumstößlichen Halte zu gelangen.

Der eingeschlagene Weg führte nach der Mitte der langgestreckten Häuserreihe; ehe er diese indessen erreicht, ließ er das Pferd in einen Fußpfad einbiegen, welcher nach dem Ende des Dorfes, der nächsten Nachbarschaft von seiner eigenen Besitzung führte. Ein stattliches Haus, mehr im städtischen Style gehalten und durch die ausgedehnten Wirthschaftsgebäube den Wohlstand des Besitzers andeutend, blickte ihm dort entgegen, und schon von Weitem ließ der Hinzureitende die Augen durch den offenen Hof, wie über die Umgebung des Hauses schweifen, als wolle er dort irgend ein menschliches Wesen entdecken, ehe er selbst das Haus betrat; ringsum aber schien Alles wie ausgestorben, und mit einem tiefen Athemzuge, hörbar aus schwerem Herzen kommend, trieb er sein Pferd zu rascherem Schritte an. Als er endlich in den reinlichen Hof einritt, steckte ein Knecht den Kopf scheu aus einer halboffenen Stallthür heraus und trat sodann, den Angekommenen erkennend, heran, ohne einen Versuch zu machen, den verstörten Ausdruck seines Gesichts zu verdecken. Der Alte nickte ihm ernst und verständnißvoll zu und fragte, ihm das Pferd übergebend, halblaut: „Sind sie zu Hause?“

„Die Frau ist drinnen, aber der Herr ist nach der Stadt zum Advocaten, wie ich gehört!“ war die gedämpfte Antwort, und langsam wandte sich der Doctor nach der breiten Hausflur, dort vor der nächsten Thür einige Secunden, wie sich sammelnd, stehen bleibend. Geräuschlos und ohne anzuklopfen öffnete er dann und trat in ein geräumiges, völlig städtisch eingerichtetes Zimmer, in dessen Hintergrunde eine Frauengestalt im Sopha lehnte, den von dichtem grauen Haare eingehüllten Kopf in die Seitenkissen gedrückt.

Einen Augenblick blieb der Eingetretene in der Mitte des Zimmers stehen, die Dasitzende schweigend betrachtend, dann sagte er in einem so weichen Tone, wie man ihn kaum aus diesem von Runzeln umzogenen Munde erwartet hatte: „Lisbeth!“

Die Frau fuhr auf und zeigte ein bleiches, starres Gesicht, das trotz der deutlichen Spuren des Alters die Feinheit und frühere Schönheit ihrer Züge noch immer hervortreten ließ; nur einen Moment hafteten die sichtlich vom Weinen gerötheten Augen auf dem Dastehenden, dann löste sich plötzlich die Starrheit ihres Ausdrucks und mit einem, wie im vollen Schmerze hervorbrechenden: „Maiwald – Doctor. Gott sei Dank, daß Sie kommen – haben Sie es denn gehört – wissen Sie es denn?“ erhob sie sich und streckte ihm beide Hände entgegen.

„Nur Ruhe und Fassung, das ist jetzt das Nöthigste!“ erwiderte der Alte, ihre Hände fest in die seinen nehmend, während er ein Aufwallen der eigenen Weichheit zu unterdrücken schien; „er ist unschuldig, verlassen Sie sich darauf, oder ich habe noch niemals in eines Menschen Seele lesen können –“

„Gott gebe es, Doctor, und bringe es an den Tag!“ rief sie mit den neu hervorbrechenden Thränen kämpfend; „aber ich glaube nicht recht daran, es sind nicht Alle solche Engelsseelen, wie Sie, Maiwald, und der Fritz vielleicht am wenigsten! Ich habe gewußt, wie es mit ihm steht, und habe doch nicht zu ihm reden können,“ fuhr sie erregter fort. „es war mir, als hätte ich damit die eigene Schuld meiner Jugend wieder aus der Vergessenheit aufwecken müssen – und jetzt kann ich es nicht aus den Gedanken bringen, daß an ihm gestraft werden soll, was ich einmal in meinem Leichtsinne gesündigt –“ ein krampfhaftes Schluchzen unterbrach ihre Rede, und der Doctor, um dessen Mund es plötzlich wie eine mühsam niedergehaltene Seelenbewegung zuckte, führte sie langsam nach dem Sopha zurück.

„Regen Sie sich nicht noch absichtlich mit Vorstellungen auf, Frau Rothe, die nur Ihre angegriffenen Nerven erzeugen,“ versetzte er ernst und gehalten, nachdem er sich den nächsten Stuhl herbeigezogen; „wenn von einer Sünde gesprochen werden soll, die sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_386.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)