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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Ja, Andere macht der Schmerz stumm, ihn redselig. Er sprach viel; so erzählte er mir auch, daß in acht Tagen nun endlich Ingeborg’s Hochzeit sei.“

Nanna Hansen schnellte bei den Worten so lebhaft empor, daß das Kind erwachte und die junge Mutter mit einem Aufschrei den Liebling an sich riß, der vom Schooß des Mädchens zu fallen drohte.

Während Alfhilde das weinende Kind zu beschwichtigen strebte, hatte Nanna beide Hände vor das bleiche Antlitz gedrückt und hauchte tonlos: „In acht Tagen!“

„In acht Tagen! in acht Tagen!“ wiederholte sie im leidenschaftlichsten Schmerze, als Alhbilde ein paar Minuten darauf sie verlassen hatte und sie allein, das starre Auge zu Boden geheftet, auf kahler Düne stand.

Mit dem Ausruf: „In acht Tagen!“ warf sie sich dann auf die Kniee, den Blick wild gen Himmel gekehrt. Die Augen, denen langsam Thräne um Thräne entrollte, konnten aber lange nicht aufsehen zum scharfen, blendenden Sonnenlichte. Sie senkte das Haupt, tief und tiefer neigte es sich herab unter ihrem inbrünstigen Gebete und bald berührte ihre Stirn den Boden. Weinend, schluchzend lag sie lange an öder Stätte und immer und wieder rang sich aus ihrer von Haß und Rache erfüllten Seele der Ausruf heraus:

„O Gott, erhöre mich! Laß nicht vergebens sein all mein heißes Bitten!“

Schaaren von Möven umkreisten ihr Haupt und in der Ferne grollte dumpf der Donner – sie hörte es nicht! Am Himmel sammelten sich Wolken über Wolken schwarz und schwärzer – sie sah sie nicht! Ein Windstoß erhob sich, wuchs und wuchs, wirbelte den Sand der Düne auf und jagte einen dichten Staubregen über sie hin – sie fühlte ihn nicht! sie empfand einzig und allein die Qual der drei Worte: „In acht Tagen!“




Mit dem untergehenden Licht der Sonne schwand ein müdes Leben. Wild, furchtbar aber, wie der Ausbruch entfesselter Naturgewalten in diesem Momente war, wo das Gewitter sich über der Insel entlud, so wild, so furchtbar war auch der Schmerzesausbruch Erich Larsson’s, als die Stimme der Ewigkeit mahnend an sein Herz tönte und der grelle Blitz der Erkenntniß: „Deine Mutter stirbt!“ durch seine Seele zuckte.

Der alte Knud Larsson, der so oft ruhig dem Tode in’s Auge geschaut, saß jetzt bleich, zitternd, unfern des Lagers, wo ein siecher Leib mit den letzten Erdenschmerzen kämpfte, und blickte verwirrten Auges, mit pochendem Herzen, auf das langsame, aber sichere Vorschreiten dessen, dem kein Entrinnen möglich! Wie hoffnungslos er selbst war, die Hoffnungslosigkeit seines gebeugten, verzweifelnden Enkels konnte er nicht ertragen.

„Vielleicht hilft ein Gott, Erich,“ tröstete er, „und Du irrst, wenn Du glaubst, sie stirbt.“

Erich Larsson irrte indessen nicht; seine Mutter, die er drei lange Jahre verlassen und die ihn endlich zum letzten Lebewohl herbeigerufen, lag im Sterben. Erst Tags zuvor war er nach Sylt gekommen, einige Stunden hatte sie sich noch ihres geliebten Kindes erfreut; dann war es schlimmer und schlimmer mit ihr geworden und jetzt leuchtete das todesumflorte Auge nur hin und wieder noch einmal heller auf, wenn ihr Sohn, der an ihrem Bette kniete, verzweifelnd sprach: „Verlaß mich nicht, Mutter!“

„Verlaß mich nicht, bleibe bei mir!“ rief er dringender, als sie die Augen schloß, und betheuernd fügte er hinzu: „Ich will und werde Dir ein besserer Sohn sein, als bisher!“

Ein Lächeln himmlischen Erbarmens verklärte bei diesem Gelübde ihre milden Züge; sie erhob die schwache Hand, die sich schwer, immer schwerer auf sein gebeugtes Haupt legte.

Da riß plötzlich jemand mit lautem Schrei die Thür des Sterbezimmers auf, da stürzte, wie von wildem Orkan gejagt, der draußen tobte, eine Gestalt in das stille Gemach, in dem der ernste Tod weilte. Erich Larsson sprang empor und blickte entsetzt um sich; der alte Seemann richtete sich langsam auf und schaute drohend auf die, welche mit verwildertem Haar, mit wildem Blicke inmitten der kleinen Stube stand, und selbst der entweichende Geist war durch den Lärm fortgerissen von der Schwelle des Todes und schaute noch einmal zurück in’s unruhvolle Leben.

„Sie liegt im Sterben!“ sagten beide Männer zu gleicher Zeit.

„Und er stirbt! O Erich, er stirbt!“ schrie wehklagend das Weib, das herein gestürzt war. „Er stirbt, dort auf dem Meere, wenn Du ihn nicht rettest!“ rief sie dringend, warf sich dem jungen Mann zu Füßen und setzte in athemloser Hast hinzu: „Immer von Neuem wird das kleine Boot zurückgeschleudert in die Wogen, nur ein Wunder erhält’s über dem Wasser. O hilf, o rette, denn Du bist stark, kühn und muthig!“

„Nanna!“ sprach Erich entsetzt, „wer ist jetzt auf dem Meere? wer stirbt und wen soll ich retten?“

„Oscar Fordenskiöld! – und Erich, Du mußt ihn retten, denn meine Gebete haben ihn in den Tod gejagt! Ich werde wahnsinnig, geht das Boot unter.“

„Ihn?– ihn retten und meine sterbende Mutter verlassen? unmöglich!“

„Erich, thust Du es nicht, dann stürz’ auch ich mich in’s Meer. Ich muß sie sühnen, diese Schuld! Kaum noch war der Himmel blau und leicht tanzte das Boot auf den Wellen; da betete ich, betete und betete! Als ich aufsah, war der Himmel schwarz, ein Blitzstrahl zeigt mir sein Schiff, das vergebens die Küste zu erreichen sucht; da dröhnt der Donner, und durch sein Dröbnen, mit dem sich neue Blitze mischen, ruft eine Stimme: ,Dies ist Dein Werk!’ und, Erich, ,dies ist Dein Werk!’ so sagt mir noch lauter das endlich erwachte Gewissen!“

Die Sterbende richtete sich auf, sie sah auf den Himmel, sah das Unwetter und betete leise: „Herr, erbarme dich Aller!“

„Herr, erbarme dich Aller!“ wie war das oft ihr Angstruf gewesen, wenn der Sturm sich erhoben und sie die Ihrigen draußen auf der tückischen See wußte, die nur Gottes Erbarmen zu sicherem Boden machen kann.

Erich’s Mutter sank in die Kissen zurück, der Sohn wollte zu ihr stürzen, aber Nanna’s starke Hand hielt ihn fest. Sie umklammerte seine Kniee und flehte: „Erich, erbarme Dich mein, denn Gott wag’ ich nicht ferner zu bitten!“

„Laß der Mutter den Sohn!“ sprach zwischen Beide tretend der alte Seemann, „ich werde gehen. Mein Arm ist auch noch stark und gut mein Wille. Reicht Beides nicht – so lebt wohl!“

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür, und bleich, wie man ihn nie gesehen, trat Ingeborg’s Vater ein. Ohne die Scene zu beachten, sprach er, die Hand des jungen Mannes ergreifend: „Erich, nah am Strande ringt mein Kind mit Sturm und Wellen – rette, rette Ingeborg!“

Mit weitaufgerissenem Auge, leblos, wie eine Statue, starrte Erich auf den Sprecher, und Nanna, die plötzlich einsah, welchen Haupthebel sie in ihrer Herzensangst in Bewegung zu setzen vergessen hatte, rief bastig: „Ja, Erich, Ingeborg ist mit im Boote. Ich sah sie ringen mit den Wogen. Während Oscar am kleinen Mast sich anklammerte, versuchte sie immer und immer wieder das Schiff der Küste zu nähern. O, eile, ihr zu helfen – suche Beide zu retten!“

Glanzloser fiel Erich’s Blick auf die Mutter, die tief und schwer aufathmete und sich ruhelos hin- und herwarf.

„Wir bleiben bei ihr!“ rief Nanna, und Baron Fordenskiöld trat leise zum Lager. Erich stieß ihn bei Seite, warf sich über die gelieble Gestalt und stürzte dann aus dem Zimmer, seinem Großvater nach, der bereits nach dem Strande eilte. Als ihre Augen über die schwarzen Wogenberge streiften, sahen sie, wie sich in der Ferne über den Wellen ein weißer flatternder Streifen erbob. Es war das vom Sturm zerrissene Segel. Auf diesen weißen Punkt steuerten beide Männer los. – – – –

Immer leiser ging der Athem der Sterbenden, immer lauter beteten die Beiden, die im stillen Gemache bei ihr zurückgeblieben, immer ärger heulte der Sturm, immer wilder brauste die See; Blitz um Blitz spaltete die schwarzen Wolken, Schlag auf Schlag grollte der Donner. Nach vielleicht einer Stunde trat Erich Larsson, mit Schweiß bedeckt, triefend von Regen, aber todtenbleich, in das kleine Zimmer, in dem jetzt lautlose Stille herrschte.

Er sah nur seine Mutter – sie war todt. Da erfaßten kalte Hände seine Hände, da blickten glühende Augen starr in seine starren Augen und ungefragt gab er mit klangloser Stimme die kurze inhaltschwere Antwort: „Beide leben!“

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_116.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)