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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

schlichte Einfalt und Keuschheit ihrer Sprache ganz verstehen will, muß selbst hinauswandern in das tannengrüne, waldduftige Thüringer Land –

Wer den Dichter will versteh’n,
Muß in Dichters Lande geh’n.

Hier in einer Natur von seltener Reichhaltigkeit der Thier- und Pflanzenformen, von mannigfaltigen Gebirgs- und Steinarten wurde er als Knabe schon zum Beobachten und Forschen angeregt, trieb er als „kleiner Wildfang“ auf einsamen Streifzügen in Wald und Feld seine ersten Naturstudien, lernte er schon früh den hohen Werth selbstgefundener Wahrheiten ahnen und die beseligendsten Freuden im Umgange mit der Natur empfinden. Eine sorgfältige häusliche Erziehung wirkte nicht minder bestimmend auf seine Geistes- und Herzensbildung. Berthold fand gerade in seiner engeren Familie die trefflichsten Vorbilder christlicher Tugenden und athmete früh den Geist der Liebe und Demuth im elterlichen Hause. Neben dem Unterrichte der Bürgerschule bereitete ihn der treusorgende Vater selbst für das Gymnasium zu Rudolstadt vor und hatte die Freude, seinen dreizehnjährigen Sohn als Secundaner aufgenommen zu sehen; während die treffliche Mutter, eine sorgsame, fromme Hausfrau, den Hauptgrund zu seiner Herzensbildung legte. Seine würdige Großmutter, die er uns als eine „einfache, brave, resolute Thüringer Bürgerfrau, schlecht und recht und gottesfürchtig“ schildert, weckte in ihm den frommen Sinn, das Sehnen nach sittlicher Vollkommenheit. „Geheimes, ahnungsvolles Grauen“ erfüllt den kleinen Knaben, wenn er die altehrwürdige, mit hohen Zwillingsthürmen in herrlichen Sculpturen gezierte Kirche seiner Vaterstadt ungesehen betritt und im „heißen, stillen Gebet hofft – Gott zu sehen“. – An seinen Eltern und sechs jüngeren Geschwistern hing er mit der innigsten Liebe; sein einziger Bruder war ihm der „treueste Herzensfreund“; nirgends fühlte er sich glücklicher, als im trauten Familienkreise, „wo die Schwestern eifrig drehn die Rädchen“ und „des Mütterleins Segen lieblich wie Maiduft waltet“, so wurde ihm in frühester Tugend das hohe – und leider jetzt so seltene – Glück eines innigen Familienlebens zu Theil und blieb ihm Bedürfniß für das ganze Leben. Fern von dem elterlichen Hause, in der „Großstadt Gebrause“, umschwebt ihn stets das Bild der wonnigstillen Heimath, und mit „traurigsüßem Sehnen“ gedenkt er in seinen Liedern oft des theuern Vaterhauses.

Ohne Heimath wäre der Sterne
Gesegnetster mir öd und leer.
Zu Haus ist doch das rechte Glück!

Diesen Sinn für trautes Familienleben, die schönste Mitgift des väterlichen Hauses, trug er auch als Mann in seinen eignen Hausstand über. Er war es, der in ihm das warme Interesse und die hingebende Liebe für Kinder und Kindererziehung erweckte und ihm durch das ganze Leben ein genügsames, kindlichfrohes Herz erhielt. Goethes Ausspruch, daß das, „was sogar die Frauen an uns ungebildet lassen, die Kinder ausbilden, wenn wir uns mit ihnen abgeben“, hat sich an Sigismund im vollsten Maße bewahrheitet.

 Unsre Welt
Wär’ ohne Kinder schlecht bestellt;
Ein Gastmahl wär’ sie ohne Wein,
Ein Sonntag ohne Sonnenschein,
Ein Garten ohne Blumenzier,
Ohn’ Drosselschlag ein Waldrevier,
Ohn’ Sang und Klang ein Hochzeitsfest.

Und als ihm selbst die „höchste Ehre und Freude dieser Erde“, Vater zu sein, bescheert wurde, erschien ihm kein Gegenstand der Naturforschung würdiger, als das nächste und theuerste Wesen, die Entfaltung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu beobachten, Knospe um Knospe zu belauschen. Eine Frucht dieser mit liebendem Vaterblicke gemachten Studien war das Schriftchen „Kind und Welt“ (Braunschweig bei Vieweg 1856), eine genetische Anthropologie, allgemein faßlich, mit tiefem, naturtreuem Verständniß und der ganzen Liebe eines herzigen Kinderfreundes geschrieben. Ammon empfiehlt in seinem bekannten Werke „Die ersten Mutterpflichten“ dieses liebliche Büchlein allen Eltern und Kinderfreunden, die Freude an Kindern und den Wunsch haben, sich über die Entwickelung derselben an der Hand ruhiger Beobachtung zu unterrichten. Die Fortsetzung bildet ein anderes Schriftchen, „Die Familie als Schule der Natur“ Leipzig bei Keil), gleich jenem aus Selbstbeobachtung hervorgegangen und durchweht vom Geiste sinniger Naturforschung und weiser Pädagogik, in welchem Sigismund allgemeine Regeln über den naturkundlichen Unterricht giebt und die von ihm erprobte Methode darlegt, das Kind vom zartesten Alter in die Natur einzuführen, dasselbe durch eigene Thätigkeit die Natur anschauen, denkend betrachten und ästhetisch auffassen zu lehren.

So suchte Sigismund den Familienkreis zur Schule der Natur und zur Quelle der reinsten Freuden zu machen; ja, wir dürfen dieses Streben als eine seiner hauptsächlichsten Lebensaufgaben, als Kernpunkt seiner schriftstellerischen Thätigkeit betrachten und die erwähnten Werke, so wie die zahlreichen Beiträge für diejenigen Journale, die für die Hebung des Familienlebens und für die belehrende Unterhaltung „am häuslichen Heerd“ wirken, als die besten Gaben bezeichnen, die wir ihm verdanken. Auch für die darstellende Kunst besaß unser Sigismund ein verständiges, feingebildetes Urtheil, war selbst ein geschickter Zeichner und Porcellanmaler – eine Kunst, zu der er ebenfalls als Knabe die erste Anregung durch einen befreundeten Maler in Blankenburg empfing – und würde gewiß als Künstler Vorzügliches geleistet haben, hätte er sein Talent nach dieser Seite hin ausgebildet. In seinen Gedichten liefert er uns so manches reizende Natur- und Genrebildchen voll Leben und Wahrheit, mit einer Farbenfrische gemalt, als sähen wir dasselbe unter dem Pinsel einer Meisterhand entstehen; seine „Thüringer Waldblumen“ und besonders seine „Idyllen und Genrebilder“ weist er mit so gewandter Feder und köstlichem Humor zu zeichnen, als sei er Ludwig Richters würdiger Schüler.

„An den Raphaels erbaut’ ich mich noch immer, doch ich seh’
Gern zu Zeilen auch ein Bildchen von Ostad und Teniers.“

Gediegene „Hausmusik“ und Gesang, vorzüglich Volks- und Kindergesang, liebte er außerordentlich, sang selbst einen schönen Bariton und trug namentlich die Schubert’schen Lieder mit tiefem Gefühle vor. Weniger begeistert war er für die Oper, „die er verstockt meidet, wenn ihn nicht der Mozart lockt“. Seine Kinder, so wie früher auch die Schwestern, unterrichtete er selbst im Clavierspielen und singen.

Mit Sigismund’s Streben, das Familienleben zu vertiefen, steht sein reges Interesse für das Volk und dessen Naturgeschichte im engsten Zusammenhang. Wenn das Volksleben in der Familie und Kindererziehung seine Grundpfeiler hat, so betrachtete er auch dessen Erforschung und Veredlung als nächste Lebensansgabe; wie das Kind, so war auch die Kindheit der Völker ihm höchster Gegenstand seiner Theilnahme. In der That, es gehörte zu seinen schönsten Freuden, die mannigfaltigen Lebensformen und Berufsthätigkeiten der Menschen, zumal der Gebirgsbewohner zu beobachten, die ja ihre Kindheit am treuesten bewahrten. Die Fragen, welche Wohnungs- und Kleidungsformen, welche Speisen, welche Gewerbe, welche wirthschaftliche und sittliche Zustände, welche Gebräuche, welche Erzeugnisse der bildenden Kunst und Volksdichtung sich bei den Bewohnern einer Gegend vorfinden, ob sie denselben eigenthümlich und durch welche natürliche und geschichtliche Einflüsse sie bedingt sind – diese Fragen hielt er ebenso sehr der Untersuchung werth, wie die Erforschung von Flora und Fauna eines Landes; eine vergleichende Ethnographie der deutschen Gebirgsbewohner bezeichnet er als ein würdiges Strebeziel für die vereinigten Kräfte derer, welche für das deutsche Volksthum Sinn haben. In seiner schlichten, herzgewinnenden Weise verstand er es aber auch, mit dem Volke, selbst mit den niedrigsten Leuten, zu verkehren und sich in die Lage und Weltanschauung armer Menschen zu „träumen“. „Das Loos der glücklichen Armuth erscheint wirklich zuweilen so reizend, daß man wenigstens auf einige Zeit aus der eigenen Haut fahren und sich in eine fremde stecken möchte.“ Eine besondere Gabe besaß er, sich auf ungesuchte Weise die Mundarten, Redefiguren und Sprüchwörter verschiedener Gegenden anzueignen, und hatte überhaupt ein tiefes Verständniß für Geist, Sprache und Dichtung des Volkes. Kurz, er war ein vortrefflicher Beobachter, dessen feine Fühlerfäden überall hinreichten, ein kenntnistreicher, liebevoller Maler des Volkslebens, der mit gleichem Geschick die industriellen Verhältnisse, wie die geschichtlichen Momente und das Volksthümliche darzustellen wußte. Nächst seinen pädagogischen Schriften gehören daher seine ethnographischen Schilderungen zu dem Vorzüglichsten, was aus diesem Gebiete geleistet worden ist. Sauberkeit der Form, Reichthum und Gediegenheit des Inhaltes, klare, anmuthige Naturschilderung zeichnen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_540.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)