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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Dannemarie zeigt keine Spur von Zerstörung oder Erschöpfung; die deutschen Truppen, welche durchzogen oder im Orte selbst garnisonirten, erhielten ihre volle Verpflegung aus den täglich eintreffenden Proviantzügen und nahmen die Ortsbewohner nur für Quartier und Feuerung in Anspruch. Dagegen war als empfindliche Folge des Kriegszustandes vollständiger Mangel an Privatfuhrwerken bemerkbar, und ich mußte mich glücklich schätzen, um den Preis von acht Thalern ein offenes, mit einem ausrangirten, ehemals königlich baierischen Dienstpferde bespanntes Wägelchen zu erhalten. Angenehm war die so fortgesetzte Fahrt eben nicht, aber sehr belehrend. Erst von hier aus konnte ich mir aus freier Rundschau einen scharfen Ueberblick der Terrainverhältnisse, des Bodenculturzustandes und der allmählich zunehmenden Kriegsspuren verschaffen.

Letztere traten bald zu Tage: Wiesen und Aecker nirgends bestellt und ganze Strecken, auf denen die reifen Kartoffeln gar nicht ausgegraben und die Kohlköpfe auf freier Erde verfault sind. Hin und wieder stehen auf den unbebauten Feldern verlassene Pflüge und Eggen, und forscht man nach dem Grunde solcher Verwahrlosung, so findet man ihn rasch in den zahlreichen, meistens bedeutenden Dörfern, welche die breite und vortreffliche Hauptstraße nach Belfort durchschneidet. Waren die ersten Dörfer von Retzwiller bis Chavannes noch theilweise bewohnt und durch Einquartierung belebt, so zeigte sich von da ab bis Belfort immer mehr die zunehmende Einsamkeit einer nur durch Karawanenzüge von eintreffenden Proviantwagen und rückkehrenden Artillerietrains belebten Wüste. Ueberall in den Dörfern waren Thüren und Fenster geschlossen, keine lebende Seele, und doch Alles unversehrt, als beschiene die goldene Sonne nur eine in tiefen Schlaf versunkene Stätte.

Bei Bessoncourt trifft man auf die ersten Spuren der deutschen Belagerungsarbeiten, und rückwärts der schmalen Trancheen ragt das erste Kreuz, unter dem unsere gefallenen Brüder ruhen. Hier, etwa sechs Kilometer von Belfort, werden auch die ersten durch französische Kugeln halb oder ganz zerstörten Häuser sichtbar; auch die Felder zeigen allerwärts die durch Projectile aufgerissenen Furchen und Vertiefungen. Und nun mehren sich fortwährend die Anzeichen eines heftigen Geschützkampfes, bis im Dorfe Perouze, drei Kilometer von Belfort, der vollste Ernst des Krieges an uns herantritt. Nahezu die Hälfte des Dorfes ist ein Schutthaufen; doch hat der kaum verkündete Frieden schon einige der flüchtigen Bewohner hierher zurückgeführt, und bei der bescheidenen Bauweise, welche sich in französischen Dörfern überhaupt, und so auch in diesem ganz französischen Dorfe kennzeichnet, dürfte Perouze bald als schönerer Phönix aus der Asche wieder erstanden sein. Wir eilen weiter, an einigen fleischlosen Pferdegerippen vorüber, – wir sehen links und rechts die Berge, oder richtiger gesagt die Hügel immer näher zusammentreten, und endlich entrollt sich vor unseren Augen das imponirende Panorama von Belfort. Inmitten dieses so großartigen als malerischen Landschaftsbildes ragt ein steiler Fels, der in jeder Richtung, am meisten aber auf der abgewendeten Seite, schroff abfällt. Auf ihm thront die stolze Citadelle, und weithin flattert triumphirend die schwarz-weiß-rothe Fahne des norddeutschen Bundes. Rechts der Citadelle und ihres isolirten Felspiedestals erhebt sich eine langgedehnte Anhöhe mit schmalem Grate, auf welchem das vorgeschobene Fort La Justice mit seiner weit sichtbaren Caserne ruht. Dies Fort hat durch die Beschießung allerdings gelitten, kann aber nach militärischem Urtheile rasch wiederhergestellt werden, und steht für das Auge des Laien fast unversehrt da.

Dasselbe gilt von dem zweiten, auf derselben Seite, aber auf einem rückwärts gelegenen Hügel erbauten Fort „La Miotte“ in minderem Maße jedoch von den beiden Forts „Les Barres“ und „de la Ferme“, die mit beiden früher erwähnten Forts und dem kleinen Außenwerke „L’Esperance“ die befestigte Stadt Belfort im Halbkreise umringen.

Wendet sich das Auge auf die Gegend links der Citadelle, so gewahrt man auf zwei aneinanderstoßenden Anhöhen desselben Gebirgszuges die beiden Forts „de la haute Perche“ und „de la basse Perche“, deren ersteres etwas höher liegt. Hier war es, wo ein Sturm der deutschen Truppen vor einigen Wochen mit Verlust von einigen Hunderten Todter und Gefangener zurückgeschlagen wurde. Aber das deutsche Artilleriefeuer, das sich mit äußerster Heftigkeit auf diesen Punkt concentrirte, wirkte so entscheidend, daß die Franzosen die unhaltbare Stellung räumten. Die Deutschen, welche sich nun durch Handstreich des abgegebenen Punktes bemächtigten, fanden ihn nur mit etwa dreißig Mann besetzt, und verwandelten ihn sofort in einen neuen Angriffspunkt, dessen Wirkung um so entscheidender sein mußte, als die Entfernung der Haute Perche von der Citadelle kaum dreitausend Schritte betrug.

Faßt man den Gesammteindruck des geschilderten Landschaftsbildes zusammen, so bleibt für den Naturkundigen kein Zweifel, daß die Anhöhen, die auf beiden Seiten so nahe aneinander herantreten, vor Zeiten zusammenhingen, – durch eine geologische Revolution zerrissen wurden und in diesem Cataclysmus den einsamen Felsblock worauf Belfort ruht, als Wahrzeichen, aber auch zugleich als Hüter des Thales zurückließen. Und als Hüter des Thales, das an diesem Punkte Trouée de Belfort (d. h. Durchbruch von Belfort) heißt, haben ihn die Franzosen wohl erkannt. Denn jedes Auge, so unerfahren es sei, muß bei dem Anblicke der Gegend sofort einsehen, daß die Festung auf dem mittleren Felsen, verbunden mit den starken Außenforts, das ganze Thal des südwestlichen Oberelsasses abschließt, und dem Besitzer dieses Punktes nicht allein die Mittel zur Vertheidigung des rückwärts gelegenen Gebietes, sondern auch den gewaltigsten Stützpunkt zum Angriffe auf den vorwärts liegenden Oberelsaß bietet. Kein anderer Punkt im Oberelsaß, – möge man auch bei Altkirch oder Mühlhausen die ausgedehntesten, kostspieligsten Befestigungen anlegen, kann für uns Deutsche den Schlußpunkt von Belfort ersetzen, und jeder spätere Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wird zeigen, wie schwer der französische Besitz Belforts in die Wagschale fallen werde.

Nun zurück zu meinem Wagen, der mich durch die waffenlosen Wälle hindurch in die Stadt Belfort, und nach längerem vergeblichen Suchen vor das einzige unversehrt gebliebene Gasthaus Du Tonneau d’or führte. Dies Mekka der Pilger, in welchem übrigens weder Nachtlager noch Unterkunft für Wagen und Pferd zu erlangen war, liegt am Hauptplatze und gewährt den vollsten Ueberblick auf die Kathedrale, das Stadthaus und den rückwärts abfallenden Theil des Festungsfelsens. An der Außenseite der Festung waren keine ernstlichen Beschädigungen, wohl aber die Eindrücke vieler ohne Durchschlag angeprallter Kugeln wahrzunehmen. Anders soll es sich nach militärischen Erzählungen (denn der Eintritt in die Citadelle wurde keinem Civilisten gestattet) im Innern der Citadelle verhalten. Durch die einfallenden Projectile soll Alles darin so verwüstet und zerstört sein, daß vierhundert Militärs zum Wegräumen des Schuttes verwendet werden. Die zurückgebliebenen Verwundeten der französischen Besatzung sagten mir freilich, die Vertheidigung hätte sich noch bedeutend verlängern können. Sie gestanden jedoch, daß die Munitionsvorräthe schon knapp wurden, und die Preußen ihrerseits versicherten mich, daß bei kräftiger Fortsetzung des Bombardements wenige Tage hingereicht hätten, die Citadelle in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Letztere Meinung dürfte die Wahrscheinlichkeit für sich haben, wenn man beim Durchwandern der Stadt unter dem Gefühle des stets erneuten und wachsenden Schauders die Scenen der Zerstörung überblickt. Gewiß hat Straßburg durch Bombardement, Feuersbrünste und Krankheiten furchtbar gelitten; aber es sind ganze Plätze und Häuserreihen dieser Stadt unversehrt geblieben. Anders erging es in Belfort, das von allen Seiten cernirt und beschossen war. Wohin der Blick sich auch wendet, trifft er auf eingebrochene Dächer, auf weitklaffende Oeffnungen in den Mauern, auf überhängende Fenstergerüste, kurz auf jede Form, in der sich die zerstörende Kraft der Projectile kundgiebt.

Nach Aussage der Franzosen hatten besonders die Geschosse der gezogenen Vierundzwanzigpfünder eine grauenhafte Wirkung. Manches Haus, zum Beispiel das Rathhaus, scheint bei Betrachtung der Vorderfront unversehrt; aber beim Umgehen zeigt sich die ganze Rückseite als eingestürzt. Die Caserne, der Bahnhof, das Artilleriegebäude sind vernichtet. Im Arbeiterviertel haben Kugeln und Brand gleich schauderhaft gewüthet. Ich habe die Stadt in allen Richtungen aufmerksam durchwandert und glaube kaum, daß mehr als fünfzig Häuser der ganzen oder theilweisen Zerstörung entgangen sind. Und doch sind alle die Schrecken der Beschießung nichts im Vergleiche zu den Opfern, welche die beiden Krankheiten Typhus und Pocken während der viermonatlichen Einschließung hinweggerafft haben. Aus kompetenter Quelle wurde mir der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_222.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)