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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses.
Von Pfarrer Ferdinand Lucius.
(Schluß.)


Nach Friederikens Abreise gehörte Goethe wieder ganz seinen Studien, ungetheilt seinen Freunden an; seine letzten Vorbereitungen zum Examen waren bald beendet; die Disputation über Theses „ging mit großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorüber“; am 6. August 1771 ertheilte ihm die juristische Facultät der Straßburger Akademie die Würde eines Licentiaten der Rechte – und die Zeit war da, wo er von Straßburg scheiden sollte. Doch konnte er’s nicht, ohne Friederike wenigstens noch einmal zu sehen. Aber unter welchen Umständen und in welcher Gemüthsverfassung? Das erfahren wir von ihm nicht. So umständlich er früher die kleinsten Vorfälle, die unbedeutendsten Ereignisse, die geringfügigsten Nebenumstände weitläufig zu erzählen wußte, ebenso zurückhaltend ist er jetzt in seinen Mittheilungen; er stellt sich ebensowenig als schuldig dar, als er es versucht, sich zu rechtfertigen; er hüllt sich vielmehr in ein – ich will nicht sagen, vornehmes, doch jedenfalls bedeutungsvolles Schweigen ein und überläßt es dem Leser, eine beliebige Erklärung sich selber herauszubilden. „Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist“ – das ist Alles, was er uns zu sagen hat, bevor er uns die Trennung von Friederike erzählt. „Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim …“ Der Vorhang fällt, das Drama ist zu Ende! – –

Wir haben es uns angelegen sein lassen, mit möglichster Treue über das Verhältniß zu berichten, in welchem Goethe zu Friederike gestanden, und, nach unserm unmaßgeblichen Dafürhalten, die Ursache darzulegen versucht, welche dessen Auflösung herbeigeführt. Wir schreiben einen geschichtlichen Aufsatz und keine moralische Abhandlung, und haben darum auch hier nicht zu untersuchen, ob der Dichter mit Recht des Treubruchs beschuldigt oder seine Handlungsweise durch ausreichende Gründe gerechtfertigt werden könne. Die Erörterung dieser Frage würde uns überdies zu weit führen und wäre jedenfalls hier nicht an ihrer Stelle.

Noch einmal jedoch sollte Goethe mit Friederike zusammenkommen. Es war im September 1779, als er den Herzog Karl August auf seiner Schweizerreise begleitete. Ueber diesen Besuch schreibt er an Frau von Stein: „Den Neunundzwanzigsten Abends ritt ich nach Sessenheim und fand daselbst eine Familie, wie ich sie vor acht Jahren verlassen hatte, beisammen und wurde gar freundlich und gut aufgenommen. Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Athem guter und stiller Menschen sehr willkommen. Die zweyte Tochter vom Hause hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente, und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verwendet habe; ich mußte sie in einem Augenblick verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete, sie ging leise darüber weg mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich so allerliebst, mit so viel herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblick da ich ihr unerwartet auf der Schwelle in’s Gesicht trat und wir mit den Nasen aneinander stießen, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr daß sie auch nicht die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich in jede Laube und da mußt’ ich sitzen und so war’s gut. Wir hatten den schönsten Vollmond; ich erkundigte mich nach allem. Ein Nachbar der uns sonst hatte künsteln helfen wurde herbey gerufen, und bezeugt daß er noch vor 8 Tagen nach mir gefragt hatte: der Barbier mußte auch kommen, ich fand alte Lieder die ich gestiftet hatte, eine Kutsche die ich gemalt hatte, wir erinnerten uns an alte Streiche jener guten Zeit und ich fand mein Andenken so lebhaft unter ihnen, als ob ich kaum ein halb Jahr weg wäre. Die Alten waren treuherzig, man fand ich war jünger geworden. Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen bey Sonnenaufgang von freundlichen Gesichtern verabschiedet, daß ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken, und in Frieden mit den Geistern dieser ausgesöhnten in mir leben kann.“

Fortan gingen Beider Lebenswege auseinander; sie trennten sich auf Nimmerwiedersehen. Er folgte seinem Sterne, der ihm voranleuchtete auf glänzenden Bahnen zu Ehren und Würden und Ruhm. Sie wandelte einsam und entsagend ihren stillen Pfad, um ihrer Liebe treu zu dulden und zu sterben.

Und ihr Liebeshandel mit Lenz? – könnte man fragen. Aber ich frage wieder: Hat ein solcher denn wirklich bestanden, – hat Friederike die Liebe erwidert, welche Lenz für sie empfunden und so selbstgefällig in seinen Briefen an den Actuar Salzmann geschildert und zur Schau getragen hat? Die Frage ist wohl einer kurzen Antwort werth.

Jacob Michael Reinhold Lenz, der ebenso geniale wie unglückliche Dichter, war im Jahre 1771, selbst noch ein Jüngling (er wurde geboren zu Seßwegen in Liefland den 12. Januar 1750 und war der Sohn eines mit einer zahlreichen Familie gesegneten, aber spärlich besoldeten Landgeistlichen), als Hofmeister zweier jungen liefländischen Edelleute nach Straßburg gekommen und hatte dort Goethe’s Bekanntschaft gemacht, ohne jemals wirklich dessen Freund zu werden. Goethe sagt von ihm: „Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit, uns zu treffen.“ – Als im darauf folgenden Jahre Herr v. Kleist, der eine seiner Zöglinge, in französische Dienste trat, begleitete er diesen nach Fort Louis, wo dessen Regiment in Garnison lag, und besuchte von da aus das nahegelegene, ihm wohl schon von Straßburg her bekannte gastliche Sessenheimer Pfarrhaus. Friederike fing eben an (Juni 1772) sich zu erholen von der schweren Krankheit, welche sie nach Goethe’s Abreise befallen und ihr ganzes Nervensystem durch und durch erschüttert hatte. Theilnehmend, tröstend und ermuthigend suchte Lenz ihr nahe zu kommen und ihre Zuneigung zu gewinnen; er wiederholte seine Besuche, und je öfter er kam, je genauer er sie kennen lernte, desto unwiderstehlicher fühlte er sich, überspannt und leichtbeweglich, wie er war, in feuriger Liebe zu ihr hingezogen. Der liebreiche Zuspruch dieses geistvollen, feingebildeten jungen Mannes, der besser als ihre Angehörigen ihren Schmerz verstand und nach seiner ganzen Größe zu würdigen wußte, mochte ihrem verwundeten, noch immer blutenden Herzen unendlich wohl thun; sie wies darum seine Huldigungen nicht von vornherein entschieden und bestimmt zurück. Es war vielleicht ein Fehler, daß sie’s nicht that; aber der eitle, so gewaltig von sich eingenommene Lenz sah darin eine stillschweigende Hinnahme seiner Bewerbung und stand nicht an, die Freude über seine erträumte Eroberung seinem väterlichen Freunde Salzmann in Straßburg triumphirend mitzutheilen.

Nach dem, was ich weiter oben von Pfarrer Brion’s Charakter und Lebensweise mitgetheilt, wird es nicht befremden, wenn ich sage, daß er seinen Kindern wenig oder kein Vermögen zurückgelassen hat. Doch hatte er Sorge getragen, daß seine Familie nach seinem Tode ein Unterkommen fände, und zu diesem Ende in der an der Landstraße gelegenen Filialgemeinde Dengolsheim ein passendes Haus entweder gebaut oder angekauft. Es steht heute noch, und nach der Aussage des vorletzten Besitzers war der dazu gehörige Baumgarten in früherer Zeit mit vielen ausgezeichnet gutes und feines Obst tragenden Bäumen bepflanzt. Die beiden Schwestern Friederike und Sophie scheinen es jedoch nicht lange bewohnt zu haben, sondern bald nach des Vaters im Jahre 1787 erfolgtem Tode nach Rothau in’s Steinthal gezogen zu sein, wo ihr Bruder Christian Pfarrer war. Hier fingen sie einen kleinen Handel mit Weberzeugen (siamoises) und irdenen Töpferwaaren an, der ihnen jedoch keinen großen Gewinn abgeworfen zu haben scheint und darum bald wieder von ihnen aufgegeben wurde, und verfertigten allerlei weibliche Arbeiten; auch nahmen sie Mädchen aus Sessenheim und der Umgegend bei sich auf. Dies ist aber nicht so zu verstehen, als ob sie eine Töchterschule oder ein Institut gegründet oder geleitet hätten; die Mädchen waren ihnen vielmehr in der Haushaltung behülflich und besuchten nebenbei, wie Sophie Brion schreibt, „Herrn Boeckel’s Schule“ zur Erlernung der französischen Sprache, in welcher sie auch im täglichen Verkehr sich zu üben Gelegenheit hatten, da sie bekanntlich im Steinthal allgemein gesprochen wird. Aus dieser Zeit stammt denn auch der vom 9. Nivose VII. (30. December 1798) datirte und „an Bürger Heintz, Agent und Anckerwirth in Sessenheim“ gerichtete

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_486.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)