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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


der Johanniter, und Vorräthe genug, die Ausgehungerten zu sättigen. Welch ein Uebermaß von Jammer und Leid begegnet dem Auge!

„Einen Bissen Brod, seit sechsunddreißig Stunden sind wir ohne Nahrung,“ bittet ein bleicher Krieger, wie ich eben mit gefülltem Korbe zum Verbandplatz eile. Ich reiche ihm schnell ein wohlbelegtes Butterbrod hin, aber keine Hand streckt sich aus dem staubbedeckten Mantel, es in Empfang zu nehmen.

„Meine beiden Arme sind zerschmettert,“ entgegnet er traurig meinem fragenden Blick und sinkt seufzend auf sein Lager. Ich beuge mich herab, ihn zu füttern, aber es dauert gar zu lange, bis er gesättigt ist, endlich erbietet sich ein mitleidiger Camerad mit zerschossenem Unterschenkel, der neben ihm im Stroh liegt, mein Amt zu übernehmen, denn immer neue Verwundete treffen ein und nehmen Hülfe in Anspruch.

Eine Jammergestalt schwankt heran. In dem weitgeöffneten Munde liegt schwarz und aufgedunsen die Zunge; noch stecken die Zähne darin, die eine in die Backe gedrungene Kugel aus den Kiefern gerissen. Den Armen hungert furchtbar, und doch kann er Nichts essen. Der Versuch, ein rohes Ei ihm einzuflößen, mißlingt; erst müssen die Zähne heraus, alsdann probiren wir’s mit Bouillon. Ein Feldkessel wird heimlich annectirt, und während das Wasser kocht, werden die Zähne aus der Zunge entfernt. Jetzt geht’s, und gierig schlürft er die von Fleischextract bereitete Suppe.

Horch, welch ein gräßlicher Schrei! – Ein Unglücklicher windet sich unter den Händen der Aerzte, die ihm mit raschen Schnitten die Kugel aus dem Unterleibe trennen.

Heiß brennt die Mittagssonne herab, doch den, der dort auf dürftigem Stroh liegt, erwärmt ihr Strahl nie mehr, todt hob man ihn vom Wagen herab. –

Keuchend und schweißtriefend eilen wir unter den Verstümmelten umher; keine Müdigkeit wird empfunden, Hunger und Durst mit einem Stückchen Brod, einem Glase Rothwein befriedigt.

„Milch! um Gotteswillen, eine Tasse heiße Milch!“ stürzt athemlos ein Trainsoldat heran.

„Was ist geschehen?“

„Man hat einen Soldaten vergiftet, ein französisches Weib soll die Mörderin sein.“

„Herr Gott, wo ist die Furie?“

„Ja, wo ist das olle Weibsbild?“

„Bereits festgenommen!“

„Hurrah! hat ihm schon, das französische Racker.“

„Ohne Gnade muß sie erschossen werden!“

„Nein, gehangen, eine Kugel ist zu gut für die Megäre.“

„Die muß ich baumeln sehn!“

„Ich auch!“

„Ich ebenfalls!“

So tobt die forteilende Menge in wildem Durcheinander und stürzt nach allen Seiten, Opfer und Mörderin zu suchen, ohne an Hülfe zu denken. – Im Hauptdepôt ist condensirte Milch, heißes Wasser findet sich glücklicherweise auch vor; – indessen jeder Beistand kommt bei dem Unglücklichen zu spät, in einer Stunde ist Alles vorüber.

„Was war’s, was man dem Armen gereicht?“

„Unverdünnte Carbolsäure hat der Unvorsichtige getrunken,“ entgegnete der Arzt. „Ein Nachlässiger hat die beim Verband gebrauchte Säure im Stroh liegen lassen. Der durstige Soldat trinkt in der Meinung, die Flasche sei mit rothem Wein gefüllt, und merkt erst seinen Irrthum, nachdem es zu spät ist.“

„So hat ihn keine Französin vergiftet?“ fragen die Umstehenden enttäuscht. Sie haben sich vergeblich auf eine interessante Hinrichtung gefreut.

Zwischen den Leiterwagen mit ihrer blutigen Last halten die Marketender. Sie machen glänzende Geschäfte. Körbe voll Butterbrod mit und ohne Schinken stehen auf dem vordersten Sitz, rother Wein lockt die Durstigen herbei. Ich staune über die Vorräthe und die merkwürdige große Aehnlichkeit, welche sie mit den im kleinen Depôt fabricirten Butterbroden haben.

„Das ist kein Wunder,“ lacht ein junger Mann, den ich darauf aufmerksam mache, „soeben noch war ich ungesehen Zeuge, wie eine niedliche Pflegerin ihren Korb voll Brod um geringen Preis einem Marketender verkaufte, statt ihn den Verwundeten auszutheilen. Es war nicht die Erste, die es that, und wird auch nicht die Letzte sein, so wenig wie jener elegante Krankenträger der Einzige ist, der die Weinflaschen aus dem Depôt escamotirt, um sie mit seinen Cameraden zu trinken oder für wenig Geld hier zu verhandeln.“ –

Ein Gewitter ist heraufgezogen, der Donner brüllt, die Blitze zucken und dunkle Wolken zucken mit strömendem Regen. Den ganzen Tag sind Arbeiter beschäftigt gewesen, ein Bretterdach über den mit Verwundeten angefüllten Perron zu schlagen, aber nicht die Hälfte kann dort geborgen werden. Auch auf dem Verbandplatz liegen weitaus die Meisten unter freiem Himmel, trotzdem mehrere Hunderte Raum in der dort aufgeschlagenen Baracke finden. Schon fallen einzelne Tropfen. Ob verbunden oder nicht, gesättigt oder hungernd, die Verwundeten müssen schleunigst in die Waggons geladen werden. Ab und zu eilen die Krankenträger mit ihren Bahren. Auf den verschlungenen Händen tragen die Gesunden ihre verwundeten Cameraden, auf ihren Krücken und Stöcken schleppen die Anderen sich herbei; dort stützt ein Stöhnender mit zerschossenem Fuß sich auf die Schulter eines starken Wehrmannes, dem eine Kugel das rechte Auge verletzte, – Blinder und Lahmer sich gegenseitig unterstützend. –

Schon fließt der Regen in Strömen, ehe sie Alle untergebracht sind. Bis auf die Haut durchnäßt eile ich bei einem der harrenden Züge von Waggon zu Waggon mit Körben voll Brod und Kannen Wein oder Limonade. Trotz der oft fürchterlichen Wunden sind die meisten Kranken guten Muthes; geht es doch nun der lieben Heimath zu, wo sorgfältige Pflege sie bald wieder herstellen wird. Wie Wenige ahnen, daß die liebevollsten Bemühungen sie nicht mehr dem Tode entreißen können! – Langsam setzt sich endlich der Zug in Bewegung, fort, der Heimath zu, und ich eile nach unserer Wohnung, eine warme Hülle über die durchnäßten Kleider zu werfen, denn das Gewitter hat die Luft bedeutend abgekühlt. Aber schon kommt die Hauptstraße herab Wagen auf Wagen mit den Opfern von Gravelotte, durchnäßt, zitternd vor Kälte, gequält von Hunger und Durst und stöhnend vor Schmerz bei jedem Stoß des schwerfälligen Fuhrwerks. Ueber diesem Elend vergißt man die eigenen Unbequemlichkeiten. Wieder geht’s hinab in’s kleine Depôt und zurück zu den überfüllten Wagen. Der ganze Marktplatz ist mittlerweile von Fuhrwerken angefüllt. Zwischen Rädern, unter Pferdebäuchen hindurch, über Steine und glimmende Wachtfeuer eilen wir mit gefüllten Körben zu den Jammernden. – Die Nacht sinkt kalt und sternlos herab; dicht werden die Unglücklichen in den Baracken gebettet, dicht auf dem feuchten Stroh unter freiem Himmel und dicht auf der kalten nackten Erde, und noch immer rasseln die schrecklichen Wagen heran.

Hinter den Baracken des Verbandplatzes, in einem einst sorgfältig angelegten Garten, lodern riesige Feuer zum düstern Himmel empor. Tag und Nacht dampfen die Kessel über demselben, Tag und Nacht sind Soldaten zum Kaffeekochen dorthin commandirt. Ein Unterofficier leitet die Arbeit und prüft das Fabrikat. Gemeine schleppen Holz, Wasser und Kaffee herbei und zerstoßen ihn in großen eisernen Mörsern. Krankenträger und Pflegerinnen schöpfen in Eimer, Gießkannen, Milchtöpfe, Flaschen und Krüge und selbst in kostbare, aus den Schlössern genommene Vasen den wärmenden Trank, und wo die dampfenden Gefäße erscheinen, bildet sich ein dichter Kreis und hundert braune Hände strecken sich mit Bechern, Tassen, Näpfchen, Feldkesseldeckeln aus; selbst aus Mützen und Mantelzipfeln wird der heiße Labetrunk geschlürft. Zwanzig bis dreißig Schritte vom Verbandplatz brodelt in ungeheurem Kessel die Zwiebacksuppe. Dorthin werden die geleitet, die durch den Mund geschossen keine consistente Nahrung zu sich nehmen können. Mit Wein, Ei und Zucker gewürzt ist dies das erste Stärkende, was die Armen seit mehreren Tagen genießen können. Wie dankbar sind sie, wie geduldig tragen sie ihr Leid, zufrieden, ihre nassen Kleider trocknen, ihre erstarrten Glieder am Feuer wärmen zu können.

Wie die Nacht vorrückt, hellt sich der Himmel auf und der Vollmond gießt sein bläuliches Licht über die nächtliche Scene. Auf dem Markte ist es stiller geworden. Noch füllen die Wagen, welche die blutige Ernte des Krieges herbeigebracht, den düstern Platz; aber sie stehen nun leer und schlafend liegen die Fuhrleute zwischen den todmüden Pferden. Unter den dunkeln Kastanienbäumen in der Mitte des Marktes ruhen an den verglimmenden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_489.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)