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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


begrüßen, – über den herrlichen Totaleffect des von den bedeutendsten Mitgliedern der Berliner Künstlerzunft geschaffenen Ausschmucks konnte bereits kein Zweifel mehr sein. Vor dem permanenten Bewunderungsjubel, welcher aus den das Gebäude belagernden Volksmassen laut wurde, musste alle Kritik verstummen. Was wir bei den letzten ähnlichen Berliner Festen so befremdet und schmerzlich vermißt hatten, das künstlerische Element, – diesmal war es glänzend und unübertrefflich zur Geltung gelangt. Das in der Eile und blos zu ephemerer Zier Hergestellte, es trug den Stempel der Meisterschaft und hatte Anrecht auf dauernde Erhaltung.

Es ging auf den Abend, und immer dichter wurde das Volksgewühl. Werkstätten, Bureaux, Fabriken, Schreibstuben, sie alle sandten ihre Arbeiter auf die Straßen und zunächst nach den „Linden“. In dem Mittelgange zwischen den Bäumen, auf welchem übermorgen die Truppen marschiren sollten, hörte zeitweilig jede Fortbewegung auf. Da sind nun namentlich die französischen Kanonen die Zielpunkte der allgemeinen Völkerwanderung. Als sei die ganze Stadt plötzlich zu einem großen Artilleriecorps formirt, so drängt sich Groß und Klein um die jetzt so friedsam schweigenden Feld- und Wallschlangen von dem verschiedenartigsten Bau und Kaliber, giebt kriegswissenschaftliche Urtheile ab über die „Stücke“ von Sedan, Straßburg, Toul, Pfalzburg, Mézières etc., deren einstige Standorte mit weißen Buchstaben auf den Rohren und Lafetten vermerkt sind, und lugt in die grimmen Feuerschlünde hinein, welche so manches wackere deutsche Herz zum ewigen Stillstand gebracht haben, wie wenn die schwarze Nacht da drinnen das Räthsel des Daseins lösen könne. Vor Allem aber wird’s bei den Mitrailleusen nicht leer von Beschauern. Dem Berliner sind die eleganten Engros-Mordinstrumente schon alte Bekannte, auf den größten Theil der eingerückten Provinzial- und Fremdenlegion dagegen üben sie noch den vollen Reiz geheimnißreicher Neuheit aus. Sie werden befühlt, beklopft, behorcht, berochen, beleckt sogar, scheinen jedoch die Erwartungen einigermaßen zu täuschen – die spukhaften Knatterbüchsen sehen ja den vertrauten Gestalten der übrigen Geschütze so unverzeihlich ähnlich.

Doch weiter! Wir haben noch ein großes Beobachtungsfeld zu durchwandern, wollen wir nur halbwegs einen Ueberblick über die Festzurüstungen und Festvorfreude gewinnen. Auf der Königsbrücke, vor deren vielbesprochenen Marmorgruppen weiße Blechschilde aufgestellt sind, um am Illuminationsabende helles Licht auf die weißen Bildwerke zu werfen, wird der Vormarsch lebensgefährlich. Alles drängt, stößt, schiebt dem Lustgarten zu, wo die letzte Festscene, die Enthüllung der Reiterstatue Friedrich Wilhelm’s des Dritten, sich abspielen soll. „Nicht drängeln! Nicht drängeln!“ ruft’s fortwährend aus dem Gewirr heraus; doch wer hat Ohren für diese Bitte? Nach dem imposanten Königsschlosse ergießt sich der Hauptarm der Fluth; auch wir wenden uns dorthin, denn hier giebt’s einen neuen Glanzpunkt der Festdecoration zu bewundern – die nach dem Entwurfe der Professoren Gropius und Wolff modellirte Germania mit den der Mutter endlich wiedergegebenen Kindern Elsaß und Lothringen. Sie bildete den würdigen Abschluß der prachtvollen Triumphbahn, von den plastischen Festzierden unstreitig die gelungenste und anmuthendste.

Noch ist indeß auch hier Alles im Werden begriffen. Noch ist das Baugerüste um das Kunstwerk nicht beseitigt und auf ihm hantiren noch die Bildner umher mit weißbepuderten Mützen und bestäubten Haaren und Kitteln, kneten in dem nassen Gypse und fügen bald einen Kopf, bald einen Arm, da eine Waffe, dort eine Trommel an das den hohen Sockel umziehende Relief. Dies Relief ist’s, was die Hauptanziehungskraft ausübt; das bringt ja gewissermaßen ein Stück aus dem Leben jedes Einzelnen zur Darstellung, indem es in einem Cyclus zusammenhängender Bilder die Wirkung des königlichen „Aufrufs an Mein Volk“ in ihren verschiedenen Phasen veranschaulicht. Wer noch daran zweifeln möchte, daß die Idee der allgemeinen Wehrpflicht in Fleisch und Blut des preußischen Volkes übergegangen ist – die bis in die Nacht hinein Siemering’s köstliches Relief umstehenden Menschenschaaren und ihre enthusiastische Bewunderung würden ihn eines Andern belehren. Wie verzückt hingen die Augen an den so frisch und markig versinnlichten Scenen aus dem häuslichen Leben der Nation, hier an dem bärtigen Landwehrmann, welcher seinem Jüngsten, das ihm die weinende Gattin emporreicht, den Abschiedskuß auf den Mund drückt, während der Aelteste das Knie des Vaters umklammert; dort an dem Reservisten, der mit schon kriegerisch geschwellter Lippe sein Liebchen beruhigt, daß die Trennung nicht lange währen und er sicher mit heilen Gliedern und ruhmgekrönt wieder heimkehren werde; weiter drüben an dem kecken Bruder Studio, welcher im Kampfeseifer sich schon mit dem Schwerte umgürtet, ehe er noch das flotte Cereviskäppchen von den Locken genommen hat; auf der andern Seite an den ehrwürdigen Gestalten der Veteranen aus den Jahren 1813 und 15, die mit begeisterten Blicken und verjüngten Herzen den an die Mauern gehefteten Aufruf des Königs lesen, welcher sie rückversetzt in ihre eigene Heldenzeit, oder an dem biederben Schmiede, der seinen zu den Fahnen eilenden Gesellen, welcher anstatt des Schurzfelles eben den Waffenrock anlegt, mit Ermahnungen und guten Lehren entläßt. Mit Einem Worte: die Bilder, wie sie mit dem Herzen erdacht sind, greifen zum Herzen, und während die Zahl ihrer Beschauer von Minute zu Minute noch immer wächst, halten sie auch uns gefesselt, bis völlige Dunkelheit und plötzlich einfallender Regen uns daran erinnert, daß es endlich Zeit ist, einen möglichst ruhigen Winkel zum Nachtimbiß aufzusuchen – was freilich erst nach vielen fruchtlosen Bemühungen gelingt.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Von der entsetzlichen Ueberschwemmung, welche am 25. Juni die Stadt Tachau im Egerer Kreis in Böhmen betroffen, haben unsere Leser gewiß schon gehört. Neuerdings erhalten wir eine eingehende Schilderung dieses verheerenden Elementarereignisses zugeschickt und wir glauben dieselbe wenigstens auszugsweise umsomehr zur Kenntniß unserer Leser bringen zu sollen, als Tachau eine kerndeutsche Stadt ist und alles Recht hat, auf die werkthätige Theilnahme in Deutschland zu zählen.

Daß die Ueberschwemmung weniger in Folge des am genannten Abend um neun Uhr niedergegangenen Wolkenbruchs erfolgte, ist bekannt. Dieselbe wurde vielmehr dadurch herbeigeführt, daß der Damm des achtzehn Joch Grundfläche umfassenden ungewöhnlich tiefen Albersdorfer Teiches, welcher seit Wochen durch die anhaltend starken Regen bis zum Ueberlaufen gefüllt war, an mehreren Stellen durchbrochen wurde, zuletzt gänzlich wich und daß die entfesselten Wogen auf ihrem Wege noch mehrere weitere Teiche entleerten. Der Wolkenbruch war eigentlich bei Albersdorf, eine halbe Stunde von Tachau, niedergegangen, und als der Regenguß sich in Strömen über letztgenannte Stadt ergoß, war diese selbst schon im nämlichen Augenblick halb unter Wasser gesetzt.

Die Miesa, welche Tachau in zwei Hälften theilt, wälzte, klafterhoch angeschwollen, auf ihren Wogenmassen entwurzelte Bäume, Bauhölzer, Thüren, Thore und Gartenzäune einher, die, nachdem schon die steinerne Brücke in den Fluthen versunken war, nun die der Brandung zunächst ausgesetzten Gebäude mit dem Untergange bedrohten. Von allen Seiten vernahm man durch das undurchdringliche Dunkel der Schreckensnacht Hülferufe und sah bei dem unheimlichen, lange anhaltenden Leuchten der Blitze bald da, bald dort ein Haus zusammenstürzen und in den Fluthen verschwinden.

Der angerichtete Schaden beläuft sich auf mehr als eine halbe Million. Hundertvierundsechszig Häuser mit elfhundert Bewohnern sind beschädigt; davon sind sieben ganz, vierundzwanzig zum größten Theile eingestürzt, siebenundzwanzig sind total baufällig geworden, einundneunzig bedenklich und fünfzehn minder beschädigt; acht Scheunen sind spurlos verschwunden, der Verheerung auf Feldern, Wiesen und Gärten gar nicht zu gedenken.

Wir ersparen uns eine Schilderung des grauenvollen Anblicks, den am andern Tage die nun vom Wasser wieder verlassene, in ihren Straßen mit Möbeltrümmern, fußhohem Schlamm, Thierleichen bedeckte Stadt bot. Halbentblößte, in Lumpen gehüllte, wehklagende Menschen gingen ab und zu und hier und dort lag eine Menschenleiche mit verzerrten Gliedern und Gesichtszügen. Neben diesen knieeten die als Bettler zurückgebliebenen Familienangehörigen. – Eine Großmutter hielt ihre Enkelin fest umschlungen, in einem Hause der Wassergasse war von sechs Bewohnern nur ein siecher Mann übrig geblieben. Der Tod hatte eine reiche Ernte gehalten. Nicht wiederzugeben sind die Erzählungen der Unglücklichen, wie sie in Todesangst und Qual die Schreckensnacht verbrachten. Indem sie ihr Vieh und sonstige werthvollere Sachen in Eile retten wollten, stieg ihnen das eindringende Wasser bis an die Brust, bis an den Mund. Sie retteten sich auf Tische, Schränke und zumeist auf die großen Backöfen. Durch die Thüren war häufig nicht mehr zu entkommen, die Treppe nicht mehr zu erreichen, und als auch hier das todbringende Element sie erreichte, da hieben sie sich, wo man deren hatte, mit Beilen Oeffnungen in die Zimmerdecken oder stießen diese sonst mit der letzten Anstrengung menschlicher Kräfte durch. Hier mußten sie oftmals durch kleine Oeffnungen durchgepreßt werden, wobei sie sich die Gesichtshaut aufschürften, die letzte Kleidung vom Leibe rissen und sonstigen Schaden an ihrem Körper erlitten.

Im einem der letzten Häuser der Wassergasse, das zunächst vom Wasser erfaßt wurde, flüchteten sich die Bewohner auf den Boden, als sie auch da nicht mehr sicher waren, auf das Dach, und als auch das Dach zu stürzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_495.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2020)