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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Vielleicht sah man draußen auf dem Balcon durch irgend eine Baumlücke in das Land hinaus! Ich war leichtsinnig und keck genug, den Schlüssel umzudrehen und die Thür um Spannbreite zu öffnen; die schwüle Sommerluft drang herein und trug köstliche Düfte aus dem Blumengarten herüber – den Kopf konnte man wohl auch einen Augenblick hinausstecken – Himmel, da trat Ilse mit raschen, kräftigen Schritten aus dem gegenüberliegenden Gebüsch und schulterte einen langen Stielbesen! Ich schlug die Thür zu, rannte wie besessen durch die Zimmer, fuhr in meine Schuhe und schlüpfte die Treppe hinab. Ich hatte eben die Tapetenthür geschlossen und mich möglichst harmlos auf einen Stuhl geworfen, als Ilse eintrat.

„Hab’ doch gar bis nach vorn in den Hof laufen müssen um den Besen da!“ sagte sie. „Das Haus hier ist ja rein wie verzaubert – verschlossene Thüren, wo man hinguckt, und nirgends eine Menschenseele! … Und meine liebe Noth hab’ ich auch gehabt – wollte mir doch das Stubenmädchen den Besen nicht geben, aus lauter Ehrfurcht … das hat mich aber in den Harnisch gebracht! … Der infame Kirchenhut – ich möchte ihn am liebsten gar nicht wieder aufsetzen!“

Sie kehrte sorgsam jedes Staubwölkchen von der Thür, drehte den Schlüssel zweimal um und schob den Schrank an seine alte Stelle. Dann trennte sie das Sackleinen auf und thürmte die ungeheuren Federbetten in der reichverzierten Bettstelle übereinander. … Ei, wie unverschämt der roth- und weißgewürfelte Ueberzug neben dem gelben Seidendamast sich blähte, und wie schüchtern und winzig das verächtlich hingeworfene feine Leinenzeug zusammensank neben meinem Betttuch, an welchem ich in ziemlicher Entfernung die Fäden zählen konnte!

Aber Ilse übersah mit geschmeichelter Miene das Werk ihrer Hände – es war derb und haltbar, dagegen ließ sich nichts einwenden.

„Morgen früh gehen wir in das Vorderhaus“ sagte sie zu mir, indem sie eine frische, weiße Halskrause aus dem Koffer nahm und auf den Toilettentisch legte. „Nach dem, was Dein Vater heute sagte, scheinen es sehr vernünftige Leute zu sein.“

Ich besann mich vergeblich auf diesen Ausspruch; mein Vater hatte nur indignirt von den vernachlässigten Kisten gesprochen und die „vernünftigen Leute“ Krämerseelen genannt.

„Vielleicht kann ich mit dem Herrn selbst über Dich sprechen,“ warf sie hin.

„Um Gotteswillen nicht, Ilse!“ schrie ich auf. „Ich laufe auf der Stelle auf und davon, und Du siehst mich nie, nie wieder!“

Sie sah mich groß an. „’s ist wohl nicht richtig?“ fragte sie und legte den Zeigefinger bezeichnend an die Stirn.

„Denke was Du willst, aber ich leide es nicht, daß Du auch nur ein Wort mit dem jungen Herrn über mich sprichst –“

„Ei, wer denkt denn an den jungen Laffen? An das gedrechselte Mannsbild, das mit Reifen spielt? … Das hätte mir gefehlt! –“

Ich fühlte, wie mein Gesicht aufglühte – Entrüstung, Schmerz und Scham durchfuhren mein Inneres, wie schneidende Messer. … Nein, Ilse war doch auch manchmal zu rücksichtslos hart und grob!

„Ich meine den Herrn, der uns gestern im Hofe nachrief!“ fuhr sie unbeirrt fort.

„Ach, der,“ sagte ich; „mit dem sprich meinetwegen so viel Du willst – der ist alt, uralt!“

„So – das sind wirklich die Leute, die vor vier Wochen in der Haide waren?“

Ich nickte mit dem Kopfe.

„Und der Alte hat Dir die Unglücksthaler gegeben?“

„Ja, Ilse!“

Ich trat an das Fenster und sah hinaus. Ich war im Begriff, mich sehr lächerlich zu machen – die Thränen traten mir in die Augen. Ilse wußte freilich, daß ich auch weinte, wenn sie Heinz zu nahe trat, aber das war doch ganz etwas Anderes, den hatte ich lieb von Kindesbeinen an – was aber kümmerte mich der wildfremde junge Mann? Was in aller Welt ging es mich an, wenn ihn Ilse einen Laffen, ein gedrechseltes Mannsbild nannte? … Es war die reine Lächerlichkeit – und diese Verunglimpfung erzürnte mich trotzdem noch viel mehr und noch ganz anders, als wenn Ilse meinem guten, alten Heinz rauh den Text las.


12.

Als ich am anderen Morgen aufwachte, war mir sehr wunderlich zu Muthe. … Gestern hatten mich die neuen Eindrücke überrumpelt; ich war wie von einem Rausch befangen schlafen gegangen; nun war das helle, klare Morgenlicht da und der frisch ausgeschlafene Geist ernüchtert, und ich war wieder die scheue Eidechse, die sich vor den Menschenaugen in eine dunkle Höhle zu flüchten suchte.

Wie ein Tröster zwitscherte und sang auf einmal ein kleiner Vogel in meine niederschlagenden Erwägungen hinein. Er saß jedenfalls draußen auf dem Fenstersims, und ich meinte in schmerzlicher Freude, er käme aus der Haide, direct vom Ebereschenbaum an der Dierkhofwand her. … Die tiefe Morgenstille wurde zu meiner großen Ueberraschung aber auch noch auf andere Weise unterbrochen. Hinter der Wand, an welcher der Schrank stand, sang plötzlich eine tiefe, klangvolle Männerstimme in langgehaltenen Tönen den Vers eines Kirchenliedes. Zugleich wurde die Thür nach meinem Wohnzimmer aufgemacht; Ilse trat lauschend auf die Schwelle. Sie nickte mir schweigend guten Morgen zu und blieb mit gefalteten Händen stehen.

„Ein frommer Mann,“ sagte sie erbaut, als der Vers zu Ende war, und trat an mein Bett. „Da wohnen ja außer Deinem Vater doch noch Leute in dem Hause – und was für Leute! … Ist mir doch gestern das ganze Haus so heidnisch und verhext vorgekommen –“

Sie schwieg, denn die Stimme begann einen zweiten Vers – das liebliche Tiriliren draußen auf dem Sims war längst verstummt; die starke Menschenstimme hatte den kleinen, schüchternen Sänger verscheucht.

„So, nun stehe auf, Kind!“ sagte Ilse, nachdem sie auch dem zweiten Vers andächtig gelauscht hatte. „Die Nachbarschaft da drüben ist mir lieber, als wenn ich einen Schatz gefunden hätte. Das war eine schöne Morgenandacht! … Nun geht’s an’s Tagewerk!“

Damit zog sie die Rouleaux in die Höhe und ging hinaus.

Ich sprang aus dem Bett. Draußen sprühten und tanzten goldene Funken auf dem Wasserspiegel; die Bäume und Büsche troffen von farbenglitzerndem Thau, und über die Rasenflächen hin liefen Pfauen und Goldfasane.

Während ich mich ankleidete, sang die nachbarliche Stimme unermüdlich weiter.

„Je – kriegt denn der’s bezahlt?“ fuhr Ilse mit einer Falte des Unmuths zwischen den weißblonden Brauen ganz erstaunt herein, als nach dem sechsten Vers auch der siebente begann. „Unserm Herrgott muß ja Zeit und Weile lang werden bei dem Ansingen! … Dazu hat er doch wahrlich die schöne, kostbare Morgenzeit nicht gemacht!“

Sie war freilich schon thätig gewesen. Sie hatte sich eine Küche aufschließen lassen und, trotz aller Anbietungen des Stubenmädchens, das Frühstück selbst bereitet. Ilse konnte „absolut keinen fremden Kaffee trinken“. Die Stube war bereits gefegt, das Bett fortgeräumt, das sie sich auf dem Sopha zurechtgemacht, und auf dem Tisch stand schön geordnet ein von Fräulein Fliedner gesandtes Kaffeegeschirr.

Ich klopfte mit schüchternen Fingern an die Thür meines Vaters.

„Komm nur herein, kleines Lorchen!“ rief es drinnen. … Gott sei Dank, er wußte noch, daß ich da war, ich mußte mich nicht auf’s Neue vorstellen! Er zog mich an der Hand über die Schwelle, küßte mich auf die Stirn und entschuldigte sich, daß er uns gestern so allein gelassen, aber er habe bis nach elf Uhr beim Herzog bleiben müssen. Ilse theilte ihm mit, daß sie sich „nachher“ bei Fräulein Fliedner Raths erholen wolle, was nun mit mir zu beginnen sei, und damit war er vollkommen einverstanden. Fräulein Fliedner sei eine sehr würdige achtungswerthe Dame, es würde ihm lieb sein, wenn sie sich seines Töchterchens annehmen wolle; später werde er ihr selbst seinen Besuch machen und sie darum bitten. Heute aber könne er unmöglich, er stecke tief in dringenden Arbeiten und müsse mit jeder Minute geizen.

Er war bei Weitem nicht so zerstreut wie droben in der Bibliothek an seinem Schreibtisch, und wenn er mich auch ein paar Mal mit dem Namen meiner verstorbenen Mutter anredete und sich angelegentlichst erkundigte, wie alt ich sei – ich fühlte doch aus Allem heraus, daß er sich mit dem Gedanken, sein Kind

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_612.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)