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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

aus eigenem Antrieb konnte ich mich nie entschließen. Dagegen zog es mich immer mehr in die Nähe meines Vaters. Auf seine zarte Zurechtweisung hin störte ich ihn freilich nicht mehr in der kräftigen Art und Weise, wie neulich, wo ich unversehens meinen Arm um seinen Hals gelegt hatte – ich wagte es nicht einmal, wie meine Mutter, eine Blume auf sein Manuscript zu werfen; aber seit ich Muth gefaßt, stand jeden Morgen eine Vase voll frischer Waldblumen auf seinem Schreibtisch, und im unhörbaren Vorüberhuschen ließ ich meine Hand scheu und leise über sein halbergrautes Haar hingleiten. Ich war gern in der Bibliothek, noch lieber aber in dem Saal „mit dem zerbrochenen Zeug“, wie Ilse beharrlich sagte, Alle diese stummen Gesichter gewannen allmählich Macht über mich und ließen mich manchmal sogar auf Augenblicke vergessen, daß droben im Norden die weite Haide lag, nach der meine ganze Seele fieberte.

Aber ich wurde dort auch sehr oft verscheucht. Dagobert, der eine wahre Leidenschaft für Alterthumskunde an den Tag legte, und sich stolz den Famulus meines Vaters nannte, verweilte halbe Tage lang in Bibliothek und Antikencabinet. Sobald ich ihn in die Bibliothek treten hörte, entfloh ich durch die entgegengesetzte Thür, rannte über Hals und Kopf die Treppe hinab, und dieser kindischen Angst und Scheu genügte oft nicht einmal der weite Raum zwischen Mansarde und Erdgeschoß – ich lief und lief, bis ich mich athemlos im Walde wiederfand.

Dieses Stück Wald war köstlich in seiner scheinbaren Urwüchsigkeit. Die alten Herren Claudius hatten es angekauft und mit Mauern umzogen, nicht zur Nutzbarmachung für das Geschäft, sondern einzig und allein zu dem Zweck, daß sie ihren sonntäglichen Erholungsspaziergang, ungestört und unbehelligt durch fremde Gesichter, auf eigenem Grund und Boden ausführen konnten – der einzige Luxus, den sie sich gestattet. … Die heiße Sehnsucht nach dem schrankenlos weiten Himmel der Haide machte mich anfänglich eiskalt und verständnißlos für die Waldschönheit. Meine Blicke richteten sich nie aufwärts – ein grüner Himmel, wie schrecklich! – Desto zärtlicher aber hingen sie an den hellen Blüthen, die mit scheuen, wilden Aeuglein aus Moos und Blattwerk und schattenfeuchtem Steingeröll hervorguckten, – sie kamen mir so weitverschlagen und furchtsam vor, wie ich selber.

So sorglos ich die Haide stets durchstreift hatte, so wenig Muth fand ich, tiefer in die anscheinende Wildniß einzudringen. Ich beschränkte mich auf die nahe Umgebung des Hauses, und mein liebster Aufenthalt wäre sicher das Ufergebüsch des Flusses geworden, denn da drinnen war es doch genau so wie daheim; allein ich wurde schon am zweiten Tag meines Aufenthaltes in K. daraus vertrieben. Als Ilse den Brief auf die Post trug, begleitete ich sie bis an die Brücke. Unter dem zierlich geschwungenen eisernen Bogen hin floß das farblos klare Wasser so leise und lieblich murmelnd, wie der traute Haidefluß hinter dem Dierkhof. Ich schlüpfte in das Gebüsch – es waren Erlen und Weiden, und von draußen dämmerten weißglänzende Birkenstämme herein. Perlmuscheln lagen nicht auf dem Grund, wohl aber die kleinen glattgewaschenen Kiesel, und das seichte Ufer war mit Laichkräutern und weißblühenden Ranunkeln ausgekleidet. Ein zackiger, leuchtend blauer Fleck zitterte auf den Rieselwellchen – der hereinlauschende Sommerhimmel – Alles, Alles wie in dem kleinen Becken daheim; ich warf die Fußbekleidung ab und bald floß die blaugefärbte Fluth um die Füße, die freilich zu meinem Verdruß in den wenigen Tagen strenger Inhaftirung schon weißer geworden waren. Es fiel mir wie Ketten von Leib und Seele und floß mit den Wellen dahin. Vor Vergnügen und Wonne lachte ich in mich hinein und stampfte wiederholt und übermüthig das Wasser, so daß die blauen Tropfen hochauf spritzten. Da knisterte es im Gebüsch. – Spitz war ja so oft vom Dierkhof gekommen, hatte mich gesucht und war zu mir in’s Wasser gesprungen. Er brach dann gewöhnlich quer durch das Buschwerk, und jetzt fühlte ich mich so ganz in die Umgebung der Heimath versetzt, daß ich bei jenem Knistern den lieben täppischen Gefährten zu hören glaubte. Laut rief ich seinen Namen, ach, ich hatte mich schön blamirt mit meiner Illusion – es kam selbstverständlich kein Spitz; an der Stelle aber, wo ich das Geräusch gehört hatte, bewegten sich die Weidenzweige durcheinander, und ein hellbekleideter Männerarm zog sich hastig zurück.

Mit einem Satz flüchtete ich an das Ufer; ich hätte weinen mögen vor Aerger. Gleich in den ersten Stunden der bildenden zwei Jahre war ich rückfällig geworden. Dagobert hatte die Eidechse bereits wieder barfuß gesehen – nun wurde gespottet und gelacht im Vorderhause. … Aber er war ja dunkel gekleidet gewesen, als ich ihn vor kaum einer Stunde zu meinem Vater hatte gehen sehen, und dann – hatte nicht ein heller Blitz aus dem Gebüsch herübergezuckt? Das Blitzen hatte ich heute schon einmal gesehen, und zwar am Comptoirschreibtisch, es kam von dem Ring an Herrn Claudius’ Hand. … Ich athmete erleichtert auf – ach ja, es war nur Herr Claudius gewesen! Er hatte jedenfalls das unvernünftige Stampfen im Wasser gehört und war besorgt gekommen, um nachzusehen, wer ihm denn einen Weidenzweig von seinem Eigenthum abknicke und die hübschen Kiesel in seinem Fluß aufstöre. Er konnte ruhig sein, der gestrenge Herr – ich that es gewiß nicht wieder.

Nun waren wir fünf Tage in K. und es war Sonntag geworden. Auf dem Dierkhof hatten wir das ferne Thurmglöckchen nur wie ein unterbrochenes Wimmern gehört – wie fuhr ich zusammen, als plötzlich ein tiefes, prachtvolles Glockengeläute durch die Lüfte brauste! …

Ilse machte sich auf den Weg zur Kirche und während sie, begleitet von den Glockentönen, feierlich den Teich umschritt, blieb ich in der Halle stehen und sah ihr nach. … Da kam auch der alte Buchhalter aus seinem Zimmer, er hatte das Gesangbuch unter dem Arm und zog im Weitergehen einen lilafarbenen, neuen, engen Handschuh über die Hand – der alte Herr leuchtete förmlich in Sauberkeit und Eleganz.

Als er in meine Nähe kam, blieb er stehen. Er grüßte nicht; sein spiegelnder hoher Hut saß wie festgenagelt auf dem Kopfe; dafür aber maß er mich mit einem langen Strafblick von Kopf bis zu Füßen. Ich zitterte und fürchtete mich, und in dem Augenblicke, wo er die Lippen öffnete, um mich anzureden, floh ich hinaus in den Wald.

Der Schreckliche – ob er mir wohl nachkam? … Ich blieb athemlos stehen und sah scheu über die Schulter zurück. Der Weg, den ich gekommen, fiel hinter mir förmlich in das Dickicht hinein – ich war, ohne es zu wissen, ziemlich steil bergan gelaufen. Es blieb lautlos still drunten – der fromme Mann hatte jedenfalls seinen Weg in die Kirche fortgesetzt. … Vor mir mündete der enge Pfad auf eine Wiese, an den gefiederten Gräsern hing noch Thau, und rings am Waldsaum lagen die dicken Purpurköpfchen der Erdbeeren wie hingesäet; es kam wohl Niemand hier herauf, sie zu pflücken. Sie würzten die Luft, die golden flimmerte – ich meinte, die Glockentöne noch in ihr nachzittern zu sehen. Langhaarige Fichten standen umher, an ihren rissigen Stämmen nieder flossen goldgelbe Harzthränen, und durch die trauerdunklen Wipfel zog leises Summen.

Hier webte ein in der Welt verschollener, geheimnißvoller Geist – es war so verschwiegen still wie drunten hinter den Siegeln. … Im Walde knisterte es; ein weiß- und rothbraun geflecktes Etwas wandelte drinnen, und dann breitete sich plötzlich ein schaufelförmiges Geweih majestätisch zwischen den Stämmen; das zierliche Wild war zahm und sanft; die Thiere kamen über die Wiese her und sahen mich mit stillen Augen furchtlos an.

Ich schritt weiter. … Wie lange meine Entdeckungsreise auf diesem neuen Terrain angedauert, wußte ich nicht. Es waren wohl Stunden vergangen, seit ich bergauf und bergnieder trollte. Ich war völlig im Unklaren, wo ich mich befand; allein ich fühlte keine Furcht, die reine, keusche Waldluft hatte sie mitgenommen. … Den Berg hatte ich hinter mir, ich war wieder in der tiefe, aber wo? … Die Wege liefen kreuz und quer, und ich wußte nicht, welchen ich betreten sollte – da hörte ich plötzlich durch das Dickicht zu meiner Linken eine Menschenstimme. Ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme des freundlichen alten Gärtners, der mit den sanftesten Schmeicheltönen ein unablässig schreiendes Kind zu beschwichtigen suchte. Ich ging dem Schalle nach und stand auf einmal vor einer Mauer; hinter ihr war es hell – sie schloß den Wald ab. Um Alles gern mochte ich den kleinen Schreihals sehen, aber an der Mauer empor konnte ich nicht; sie war hoch und spiegelglatt. Dagegen verstand ich mich ja auf das Baumklettern wie eine Eichkatze, war es doch eine meiner liebsten Gewohnheiten wie das Fußbad im klaren Wasserspiegel, und nach wenigen Augenblicken saß ich hoch droben im Wipfel einer Ulme.

Ich sah hinaus in die Weite, sah ein großes Stück Himmel. Zu meiner Rechten breitete sich die bethürmte Stadt hin, flankirt von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_646.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)