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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

prächtigen Promenaden, dann kam der Fluß, derselbe, der auch die Claudius’sche Besitzung durchschnitt. … Ich war ganz nahe bei der Karolinenlust gewesen, ohne es zu wissen, denn das Wasser lief keine zweihundert Schritte entfernt vorüber, eine breite steinerne Brücke wölbte sich darüber hin. Diesseits des Flusses, weithin, bis hinauf an den Saum des Waldes verstreut, lagen elegante Landhäuser inmitten reizender Gartenanlagen. Zu meiner Linken, so nahe, daß ich jeden Gegenstand im oberen Stockwerk bequem übersehen konnte, stand ein hübsches kleines Schweizerhaus. Das Fleckchen Grund und Boden, auf welchem es lag, war engbegrenzt. Vor der Hauptfaçade breitete sich ein schmaler Blumengarten hin, und rückwärts über einem engen Rasengrund wölbte eine prachtvolle Roßkastanie ihre undurchdringlich befiederten Aeste – sie war der einzige Baum der ganzen kleinen Besitzung, die nur eine breite Fahrstraße von der Claudius’schen Waldmauer trennte.

Der alte Gärtner Schäfer ging unter dem schattenwerfenden Balcon des Hauses auf und ab. Er hatte einen rosenfarbenen Kattunmantel um die Schultern geschlagen, trug den kleinen schreienden Bösewicht so kunstgerecht wie nur die gewiegteste Kindermuhme und sang ihm in sichtlicher Todesangst alle bekannten Kinderlieder vor. Auf dem Rasenfleck hinter dem Hause spielte ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren. Es hatte ein weißes Kleidchen an, und lange, flachsgelbe Locken fielen über den Rücken bis fast auf den Gürtel hinab. Die Kleine hatte sich glückselig, mit ganzer Seele in ihr Spiel vertieft. Sie raufte mit beiden Händchen Grashalme aus und lud sie auf ein Korbwägelchen. Eine Zeitlang ließ sie sich in ihrem Eifer durch das Kindergeschrei nicht stören, aber endlich ging sie in den Vordergarten, pflückte eine halbverwelkte Levkoye ab und reichte sie dem ungezogenen Brüderchen hinauf.

„Du sollst ja keine Blumen abreißen, Gretchen – Papa hat’s verboten!“ rief eine Männerstimme vom Balcon hinab.

Die südliche Ecke des Balcons war so üppig von wildem Wein umsponnen, daß nicht ein Sonnenstrahl in die Laube und auf den gedeckten Eßtisch inmitten derselben fallen konnte. Der junge Helldorf, der im Comptoir des Herrn Claudius arbeitete, bog sich unter dem Weinlaub hervor; ich hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. Er hielt ein Buch in der Hand, und wenn er auch die Mahnung im strafenden Tone hinabrief, so flog doch beim Anblick des auf den Zehen stehenden reizenden Geschöpfchens ein zärtliches Lächeln um seinen Mund.

Da kam über die Brücke her ein Herr, der eine Dame am Arme führte. Sie blieben einen Augenblick aufhorchend stehen, dann entschlüpfte die Dame ihrem Begleiter und lief voraus, auf das ungeduldige Kind zu. Sie war jedenfalls in der Kirche gewesen, denn sie legte eilig ein Gesangbuch auf den nächsten Gartentisch und reichte nach dem Knaben, der bei dem Klang ihrer Stimme sofort verstummt war und nun lallend mit Händen und Füßen ihr entgegenstrampelte – in überströmender Mutterzärtlichkeit bedeckte sie das kleine, dicke Kerlchen mit Küssen. Dann schlang sie den linken Arm um das Töchterchen und zog es an sich. Sie war sehr zart, die kleine Frau, man hätte meinen können, der feine Arm zerbräche unter dem dicken Jungen. Sie nahm den Strohhut ab, an dessen blauen Bändern das Kind mit täppischen Händchen zerrte, und ich sah ein wunderfeines, lilienweißes Gesichtchen unter einer Fülle so hellblonder Haare, wie sie über Gretchens Rücken hinabhingen.

Mittlerweile war auch der im Stich gelassene Herr Gemahl nachgekommen und in den Garten eingetreten. Er sah dem jungen Helldorf sehr ähnlich, die schönen Männer waren offenbar Brüder. Mit beiden Armen nahm er sein Töchterchen und warf es in die Luft; das weiße Kleid blähte sich wie ein Sommerwölkchen; die goldenen Locken wogten und flatterten im Luftzug, und das Kind jauchzte zum Balcon hinauf. „Onkel Max, siehst Du mich?“

Ich war wie berauscht; ich hatte zum ersten Mal das reinste Familienglück vor Augen. Herzinniges Behagen an dem schönen Bild und eine tiefe Sehnsucht, für die ich keinen Namen wußte, mischten sich mit Wehmuth in meiner Seele. Mich hatte nie eine Mutter leidenschaftlich an ihr Herz gedrückt, ich hatte nie erfahren, wie das glückliche Bübchen dort, daß ein einziger Laut von zärtlichen Mutterlippen alles vermeintliche Leid sofort zu stillen vermag. Aber ich hatte auch mit heimlicher Lust gesehen, wie die junge Frau ihre Kinder herzte – die Beneidenswerte! Wie süß mußte es sein, wenn solch ein Kinderärmchen sich verlangend ausstreckte und alles Heil, alle Beruhigung ausschließlich von der Mutter erwartete!

Gretchen ging wieder zu ihrem Heuwagen und setzte plaudernd ihr Spiel fort, während die Anderen in das Haus traten. Leise glitt ich von der Ulme herab und schritt suchend die Mauer entlang, und da stand ich richtig vor einer Thür, die in’s Freie führte. Es steckte sogar ein Schlüssel im Schloß, er war freilich mit einer dicken Rostschicht überzogen und wurde augenscheinlich nie berührt. Aber mein Verlangen, das kleine Mädchen zu sprechen, machte mich kräftig und gewandt, nach langer Anstrengung wankte der Schlüssel unter meinen Händen, er fuhr herum, und die Thür that sich kreischend auf.

(Fortsetzung folgt.)




Briefe eines Wissenden.[1]
Erster Brief. Manteuffel und Falckenstein.

Geehrter Herr! Unserer Verabredung, Ihnen einige Licht- und Schattenbilder aus der politischen Welt und aus dem Leben und Weben der höheren Kreise unserer neuen Reichshauptstadt zu übersenden, soweit dergleichen Abrisse für die „Gartenlaube“ geeignet sein möchten, komme ich mit Vergnügen nach, obwohl mir gleich bei der Auswahl der Skizzen für diesen ersten Brief schon recht ernste Bedenken entgegengetreten sind.

Sie wissen, daß mich das Schicksal mit einigen der Männer, die heute in dem preußischen Staate eine Rolle spielen, ja zum Theil berufen sind, mächtig in die weltbewegenden Ereignisse der Gegenwart einzugreifen, schon vor Zeiten zusammengeführt hat, und daß ich andauernd Gelegenheit habe, mit den alten Bekannten zusammenzutreffen und mancherlei zu erfahren, was trotz seines allgemeineren Interesses nicht in die Oeffentlichkeit dringt. Mittheilungen solchen Inhalts für Ihr vielgelesenes Blatt, bedürfen aber einer doppelt sorgfältigen Sichtung. Zunächst schließt sich selbstverständlich alles aus, dessen Veröffentlichung eine Verletzung des Amtsgeheimnisses oder ein Mißbrauch persönlichen Vertrauens sein würde, zum Anderen werden die Gefühle der Pietät – die eigenen sowohl wie die der Leser – für die trefflichen Männer, denen das Vaterland seine Wiedergeburt verdankt, Beschränkungen auflegen sowohl in Bezug auf die Darstellung von Thatsachen als auf die Schärfe des Urtheils. Sie haben selbst, Herr Redacteur, diesen letzten Punkt besonders betont, und ich werde den Gedanken durchaus als einen leitenden betrachten, erlaube mir aber eine kurze Erwägung voranzuschicken.

Personen in hervorragender Stellung genießen die Gunst eines glücklichen Vorurtheils; sie werden von allen, die ihnen zum ersten Male nahe treten, mit der Erwartung betrachtet, als müsse ihnen jedenfalls etwas Ungewöhnliches beiwohnen; geht ihnen gar ein verdienter oder unverdienter Ruf voraus, so wächst die Spannung verhältnißmäßig und verwandelt sich in erstaunlich leichter und schneller Weise in Bewunderung, Ehrfurcht und Staunen. Für Menschen, die ein gütiges (bekanntlich nicht immer gerechtes) Schicksal auf eine gewisse Höhe des Lebens gehoben hat, bedarf es weiter keiner Anstrengung, um auf die Masse der gewöhnlichen Sterblichen den Eindruck des Bedeutenden, wohl gar Erhabenen zu machen. Der Mensch ist ein bewunderungssüchtiges Geschöpf; er verlangt durchaus nach einem Gegenstande, den er anstaunen, verehren, betoasten und vor dem er sich beugen und verbeugen

  1. Unter diesem Titel und aus der Feder eines in den höheren Kreisen verkehrenden Mannes werden wir eine Reihe Charakteristiken der maßgebenden Persönlichkeiten des deutschen Reiches bringen. Wir glauben, unsere Leser besonders darauf aufmerksam machen zu dürfen.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_647.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)