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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

zu dem alten Mann – mir kam es vor, als sei plötzlich jeder Muskel dieser durchsichtig zarten Gestalt stählern geworden; – „sie war fort und die Mauerthür stand offen. In namenloser Angst bin ich hereingeflogen, um dem Augenblick vorzubeugen, wo Dein Blick auf das Kind fallen könnte – ich bin zu spät gekommen. … Vater, ich habe mich nach furchtbaren Kämpfen endlich darein ergeben, von Dir die herzlose, undankbare, die verlorene Tochter genannt zu werden; ich bin ohnmächtig Deinen Angriffen gegenüber, zu denen die fromme Welt ‚Ja‘ und ‚Amen‘ sagt. Aber als Mutter darfst Du mich nicht antasten! … Ich sollte mein Kleinod, mein Heiligthum“ – sie preßte das Kind in leidenschafllicher Inbrunst an sich – „dieses süße, selige Kinderherz in Verfolgung selbstsüchtiger Zwecke zu einer Komödie abrichten? Das ist eine Schmähung, die ich nicht ertrage, die ich zurückweise, und für die Du mir dereinst bei Gott Rechenschaft schuldig bist!“

Sie wandte sich und ging.

Ich meinte, er müsse der schwerbeleidigten Frau nachspringen und sie versöhnend in seine Arme schließen; allein er war offenbar einer jener schrankenlos eitlen Menschen, die es für unmöglich halten, je im Unrecht zu sein – kommt ihnen ja einmal das dunkle Gefühl, daß sie geirrt, dann reizt sie die Beschämung erst recht zu Trotz und Härte.

Er sandte der Davoneilenden einen tief erbitterten Blick nach und trat mir plötzlich mit zorngeröthetem Gesicht so nahe, daß ich in das dornige Gesträuch hinter mir zurückweichen mußte.

„Sie da, wie können Sie sich denn unterfangen, auf fremdem Grund und Boden eine festverschlossene Thür ohne alle Befugniß zu öffnen?“ fuhr er mich an – aus diesen Tönen brach ein Groll hervor, der unverkennbar lange Zeit hindurch heimlich genährt worden war.

Ich stand da wie gelähmt vor Bestürzung, ich konnte weder Hand noch Fuß rühren. … O Gott, und nun bekam dieser Entsetzliche auch noch einen Helfershelfer! – Dicht neben mir stand plötzlich, wie aus der Erde gehoben, Herr Claudius; er mußte aus dem Dickicht getreten sein. Ich sah zu ihm empor, er hatte die schreckliche blaue Brille vor den Augen und sah dadurch noch viel blässer aus, als neulich im Comptoir. … Der verzieh es mir sicher niemals, daß ich unerlaubter Weise seine Gartenthür geöffnet und Fremde hereingebracht hatte. … Jetzt hielten diese zwei unerbittlich strengen und hartherzigen Krämer Gericht über mich, und ich konnte nicht entfliehen – ich stand ihnen wehrlos gegenüber. … Ob ich nicht doch einen Versuch machte, Ilse oder meinen Vater herbeizurufen?

„Herr Claudius,“ sagte der Buchhalter, merkwürdiger Weise sehr frappirt durch das unerwartete Hervortreten des Besitzers selbst, in herabgestimmtem Ton, „Sie sehen mich in großer Aufregung. Ich kam auf meinem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang hierher, da –“

„Ich habe den Vorfall in seinem ganzen Verlaufe hinter dem Gebüsch mit angesehen,“ unterbrach ihn Herr Claudius ruhig.

„Desto besser – dann werden Sie mir auch zugeben, daß ich Grund genug habe, ungehalten zu sein. Erstens einmal wird ohne unser Vorwissen eine weitentfernte Hinterthür, die wir nicht überwachen können, geöffnet –“

„Das ist allerdings unstatthaft, Herr Eckhof. … Aber Sie haben in Ihrem Eifer vergessen, daß Fräulein von Sassen die Tochter meines Gastes ist und nicht in solcher Art und Weise, wie Sie sich eben noch erlaubt, zur Rede gestellt werden darf.“

Ich sah erstaunt auf und suchte nach den Augen unter der Brille – es kam ganz anders, als ich erwartet hatte. Der Buchhalter aber trat so betroffen zurück, als höre er zum ersten Male in seinem Leben eine solche Antwort aus diesem Munde. Er zog die weißen Brauen grollend zusammen, und ein hämischer Zug entstellte den untern Theil seines Gesichts.

„Fräulein von Sassen?“ wiederholte er spöttisch. „Wo soll ich da den Adel respectiren? … Doch nicht etwa in dieser lächerlich herausstaffirten Kindergestalt?“

„Es ist mir nicht eingefallen, den adeligen Namen zu betonen,“ versetzte Herr Claudius leicht erröthend. „Ich habe einfach auf die Rücksicht hingewiesen, die Sie jedem Gast meines Hauses, ohne Unterschied, schuldig sind.“

„Nun, nun, Sie werden schon noch erleben, welchen Segen die Gastfreundschaft gerade in diesem Falle über Ihr ehrliches Dach bringen wird! … Ich habe gewehrt und gebeten genug – es hat Alles nichts genutzt! Die heidnischen Bilder sind wieder an’s Tageslicht gezerrt worden, und droben in der Karolinenlust sitzt Einer, der keinen Gott kennt, und die alten Götzen wieder aufrichtet. Und der das Scepter in der Hand hat, der junge Gottlose auf dem Fürstenthron, der seinem Volk in Zucht und Ehrbarkeit und Gottesfurcht vorangehen und sein Volk zu einer Hütte voll des Lobens und Betens machen sollte, er hilft das neue Kalb aufrichten. ‚Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß, und ihre Sünden sind fast schwer.‘ … Der Herr ist langmüthig, aber die Stunde wird kommen, da Feuer und Schwefel vom Himmel regnen!“

Herr Claudius ließ schweigend, aber in sichtlich tiefer Betroffenheit den fanatischen Eiferer gewähren. Der alte Mann sprach offenbar aus vollster Ueberzeugung; aber vielleicht hatte er dieselbe seinem Chef noch nie so drastisch laut werden lassen, als in diesem Augenblick der heftigsten Erregung.

„Der Herr hat mich gewürdigt, zu sehen und zu hören, wo die Ungläubigen mit Blindheit und Taubheit geschlagen sind,“ fuhr er fort. Er hob den Arm und deutete wie ein Seher nach der Karolinenlust hinüber. „Das Haus dort ist in Sünden erbaut und zu allen Zeiten ein Pfuhl des Lasters geblieben, und die dort gefehlt haben gegen die Gebote des Herrn, können den Frieden nicht finden – sie wandeln umher und wehklagen und weissagen Unglück dem Hause, das die Sabbathschänder aufgenommen hat –“

Herr Claudius hob unterbrechend die Hand.

„Habe ich ihn nicht gehört, den markerschütternden Schrei in den Sälen, vor denen die Siegel liegen?“ fuhr der Alte unbeirrt mit erhöhter Stimme fort. „Habe ich nicht gesehen, wie die Ampel an meiner Zimmerdecke geschwankt hat unter den Tritten des Unheimlichen, der ruhelos droben gewandert ist? … Ich weiß es, sie sind aufgestanden aus ihren Gräbern, sie sind verdammt um ihrer Sünde willen, in die Welt zurückzukehren und die Blinden zu warnen. … Herr Claudius, an dem Tage, wo dieses junge Geschöpf“ – er zeigte auf mich – „die Karolinenlust betreten hat, ist es lebendig geworden droben in den vermauerten und versiegelten Sälen.“

Großer Gott, der Mann hatte mich belauscht! Während ich unverantwortlich leichtsinnig in der streng gehüteten Verlassenschaft eines Todten herumgestöbert, hatten die scharfen, blauen Augen drunten an der Ampel gehangen und an ihren Schwingungen jeden meiner Schritte gesehen; der alte Mann hatte den Schrei gehört, den ich vor meinem Spiegelbild ausgestoßen, und benutzte nun in seinem finstern Wahn den Vorfall, den Hausbesitzer gegen meinen Vater und mich zu hetzen.

Unwillkürlich suchte mein Blick das Gesicht des Herrn Claudius – es war mir zugewendet; allein die funkelnden, blauen Gläser bedeckten so vollkommen seine Augen, daß es sich unmöglich bestimmen ließ, welchen Eindruck die Worte des Buchhalters auf ihn machten. Er war mir nur um einen Schritt näher getreten; vielleicht hatte der Schrecken mein Gesicht entfärbt, und er fürchtete eine nervöse Schwäche meinerseits; als er aber sah, daß mir die Füße nicht treulos wurden, wandte er sich wieder zu meinem finstern Verfolger.

„Sie bestätigen schlagend, daß uns die Orthodoxie schließlich dem crassesten Aberglauben wieder zuführen muß!“ sagte er – Entrüstung und Bedauern mischten sich ist seiner sonst so gleichmüthigen Stimme. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir thut, Sie diesem entsetzlichen Mysticismus verfallen zu sehen, Herr Eckhof! Man hat mich bereits darauf aufmerksam gemacht, aber ich habe es nicht glauben wollen. … Das Recht, Ihre Ansichten zu meistern, steht mir selbstverständlich nicht im Entferntesten zu – ich habe Sie nur zu bitten dieselben im Geschäft sowohl, als auch meinen Anordnungen im Hause gegenüber vollständig aus dem Spiel zu lassen.“

„Werde nicht verfehlen, Herr Claudius,“ entgegnete der Buchhalter – in seiner auffallend betonten Unterwürfigkeit lag viel versteckte Malice. „Aber Sie werden mir erlauben, an dieser Stelle auch eine Bitte auszusprechen. … Ich bewohne nun die Karolinenlust seit langen Jahren, und es hat mir stets als Vorzug gegolten, daß ich hier den heiligen Sonntag streng nach des Herrn Gebot in ehrfürchtiger Stille und ungestörter innerer Einkehr feiern durfte. Ich bitte Sie hiermit dringend, anzuordnen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 676. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_676.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)